Forscher haben die deutsche Jugend lange mit wenig schmeichelhaften Attributen belegt – sie sei desinteressiert, unpolitisch, extrem pragmatisch, eine Mischung aus „Null Bock“ und Hedonismus. Wer nun fürchtet, selber wie ein nörgelnder Vertreter der Früher-war-alles-besser-Fraktion zu klingen, sollte sich schleunigst mit Jonathan Funke verabreden. Funke, ein ziemlich sympathischer Schlacks mit verstrubbelter Mähne und ansteckendem Lachen, scheint das totale Gegenbeispiel zur Legende von der Null-Bock-Generation zu sein. 2016 hat der heute 21jährige Berliner auf der ersten TINCON zusammen mit weiteren Mitstreitern eine junge digitale Menschenrechtscharta vorgestellt. Das Festival, eine Art Jugendversion der re:publica, das Menschen zwischen 13 und 21 ein Forum geben will, war der passende Ort für eine gründlich aufgebohrte Version 2.0 der Menschenrechte – aus jugendlicher Sicht. „Nach dem Zweiten Weltkrieg“, erklärt Funke, „hat sich die Weltgemeinschaft neue Regeln gegeben, um ein Leben in Frieden und Wohlstand zu sichern. Das hat meistens echt gut geklappt. Doch jetzt stehen wir am Anfang einer neuen Ära! Heute verdienen einzelne Konzerne mehr als ganze Länder; wir können schneller mit Menschen aus Pakistan reden als beim Jugendamt eine Wartenummer bekommen. Da braucht es neue Regeln!“
Die Schwarm-Intelligenz der Digital Natives
Angestoßen von der ZEIT-Stiftung und dem Bucerius Lab entwickelte ein halbes Dutzend junger Leute eine eigene Jugend-Charta digitaler Grundrechte. Weitgehend in Eigen-Regie wurde recherchiert und formuliert, die Themen waren breit gefächert und reichten von Transparenz und Netzneutralität bis zum Recht, offline zu sein oder der Forderung nach Abschaffung der Störerhaftung. Inspiriert vom Engagement der Jugendlichen und ebenfalls von der ZEIT-Stiftung gefördert, haben Wissenschaftler, Politiker, Publizisten und digitale Vordenker – von Martin Schulz bis zu Sascha Lobo und Juli Zeh – inzwischen eine Digital-Charta erarbeitet, die dem EU-Parlament in Brüssel und der Öffentlichkeit zur weiteren Diskussion übergeben wurde. Anders als von manchen Kritikern geargwöhnt, ist die „Charta“ kein mediales Strohfeuer geblieben – die Debatte geht weiter. Für Jonathan Funke sollte dieser Prozess Schule machen: „Ich glaube, es gibt in der Bevölkerung für fast jedes Problem intelligente Lösungsansätze, zumindest die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. Die Politik sollte sich mehr um diese Schwarm-Intelligenz kümmern.“
Mehr Partizipation wagen!
Ein junger Mann, der die Welt, wie sie ist, nicht für die bestmögliche, sondern für veränderbar hält – das macht neugierig. Fragt man ihn, wie sein politisches Engagement gewachsen ist, landet man ziemlich rasch beim Schülerparlament im Rathaus von Charlottenburg-Wilmersdorf. Mit gerade einmal 12 Jahren war er dort jüngstes Vorstandsmitglied. Die Debatten drehten sich um die Qualität des Schulessens, schlechtes Toilettenpapier oder das Hundekot-Problem im Kietz. Nichts Weltbewegendes also, könnte man meinen. Doch wenn man erlebt, wie man echte Bezirks-Parlamentarier auf Trab bringt, indem man sich ernsthaft hinter eine Sache klemmt, ist das für einen Heranwachsenden, so formuliert es Funke, eine enorme „Selbstwirksamkeits-Erfahrung“. Im Alltag, gerade an den Schulen, sei das leider nicht die Regel: „Eigentlich müssten solche Partizipations-Möglichkeiten viel stärker in die Bildung integriert werden. Zumal es, dank der Digitalisierung, so einfach ist wie noch nie!“
Fairer Handel kommt von handeln
In den reichlich zweieinhalb Jahren seit dem Abitur hat Jonathan Funke in einer Bäckerei gearbeitet, ist durch Indien gereist und in Umweltschutz- und Menschenrechts-Initiativen aktiv geworden. Und er hat Fragen gestellt, die in hippen Berliner Latte-Macchiato-Stuben und Mode-Boutiquen eher selten aufploppen: Wieso landet vom Entgelt für diesen leckeren Espresso, für dieses coole T-Shirt nur ein Prozent bei denen, die den Kaffee angebaut und gepflückt, die Kleidung genäht haben? Erfahrungen, die in der Gründung eines Sozial-Startups mündeten: Tip Me will aus einer jahrhundertealten Tradition, die auf allen Kontinenten gelebt wird, ein Werkzeug der globalen Umverteilung machen – aus dem alltäglichen Trinkgeld wird das globale Trinkgeld. „Es ist unser Ziel, die Lieferkette von möglichst vielen Produkten fairer und transparenter zu gestalten. Wenn es uns gelingt, engagierte Kunden zu überzeugen, können wir mit unserer Software den Lohn der Produzenten auf einen Schlag verdoppeln.“ Derzeit laufen Gespräche mit Versandhändlern und Supermarktketten – aufgeklärte Konsumenten sorgen für den nötigen sanften Druck.
„Hälfte Arbeit, Hälfte Acker“
Es ist kein Zufall, dass wir Jonathan Funke in den Büroräumen von Tandemploy treffen. Gute Freunde haben das alternative Jobsharing-Startup gegründet – und auch Jonathan interessiert sich seit längerem für die Zukunft der Arbeit. In seinen Augen sind es vor allem zwei Gruppen von Berufstätigen, auf denen Veränderungsdruck lastet: Die ganz jungen, die frisch auf den Arbeitsmarkt drängen und sich nirgends richtig wiederfinden. Und die alten Hasen, die schon ewig dabei sind, alles gesehen haben – aber keine echte Erfüllung mehr spüren. Funkes Projekt Stadt, Land, Flow („Hälfte Arbeit, Hälfte Acker!“) will Handwerk und Kopfarbeit in die Balance bringen, Grün und Grau versöhnen – auf der Suche nach dem schönen Leben. Die Tische im Büro hat er mit den Leuten von Tandemploy selbst gebaut; die Experten für flexible Arbeit, die natürlich ein Näschen für Trends haben, sponsern Funkes Büroplatz und haben beim Programmieren der Website geholfen. Sehr gut möglich, dass aus dieser lockeren Kooperation mehr wird – denn die Zeiten haben sich geändert: Wer heute am Anfang seines Berufslebens steht, hat ein anderes Wertesystem als die Eltern, weiß Funke: „Das Reihenhaus, das große Auto, die regelmäßigen Fernreisen machen mich nicht glücklich, wenn ich dafür 70, 80 Stunden die Woche schuften muss. Da nehme ich mir lieber Zeit für Dinge und Menschen, die mir wichtig sind.“
Jugend in die Parlamente?
Führt man sich vor Augen, dass der Altersdurchschnitt im Bundestag heute bei knapp 50 liegt – also noch über dem der Gesamtbevölkerung: Sollte einer wie Jonathan Funke nicht ernst machen – und hauptberuflich in die Politik gehen? Funke, der sehr fein zwischen politischem Engagement und Parteipolitik unterscheidet, fürchtet, dass man in der Filterblase des Berufspolitikers geradezu zwangsläufig Distanz zum Leben der „normalen“ Menschen entwickelt. „Wenn man nur chauffiert wird, kann man sich nicht mehr vorstellen wie sich das anfühlt, wenn in abgehängten Provinz-Gemeinden kein Bus mehr kommt.“ Treffer versenkt. Aber: Muss es nicht irgendwer einmal anders, besser machen? Jonathan Funke lacht: „OK, vielleicht kommt das ja noch. Mir liegt am Herzen, dass sich gesamtgesellschaftlich etwas verändert. Es ist gut und wichtig, wenn jemand der Oma von gegenüber die Einkaufstüten hochträgt. Aber wenn die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten kann, hat das auch nicht viel gebracht.“