Wer liest, liest sich in die Welt hinein – so brachte es Jury-Vorsitzende Katrin Schumacher unter der Glashallen-Kuppel mit Umberto Eco auf den Punkt: Wer liest, wird 1000 Jahre gelebt haben. 506 Einreichungen aus 166 Verlagen (ein neuer Rekord!) hatten Schumacher und ihre Jury-Kolleg:innen in diesem Jahr zu durchmustern – und beim Lesen für den Preis ist ihnen im Wortsinn die Welt mit ihren Multi-Krisen entgegengekommen; nicht selten wurden die Bücher, über die sie sich beugten, selbst aus Krieg und Verfolgung heraus geschrieben. „Es bleibt schrecklich und unheimlich, in post-normalen Zeiten zu leben“, so Schumacher. „Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, der Stapel der wahnsinnigen Momente wird mit jedem Blick in die Social Media Timeline höher.“

Fast folgerichtig, dass sich die Jury am Ende für Bücher entschieden hat, die sehr viel mit unserem Hier und Heute zu tun haben, wobei sich die momentan verunsichernden Zeiten auch an vergangenen Krisen spiegeln – von einer „Gegenwartsausgrabung“ war sogar die Rede. Die Frage: Wie gehen wir mit dem, was uns zusetzt, um? Und wie leisten wir, wenn möglich, sogar Widerstand? Der 1978 im Schwarzwald geborene Thomas Weiler erhielt den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung für „Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus“ (Aufbau), ein tief verstörendes Stück Oral History, in dem Weiler den Überlebenden eine Stimme gibt. Ein Buch, das im Original vor 50 Jahren erschien, in Deutschland nie zur Kenntnis genommen wurde, aber viel ausgelöst hat: Das Schreiben von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, die ebenfalls in Leipzig zu Gast war, geht auf dieses Werk zurück, ebenso wie der Antikriegsfilm des Regisseurs Elem Klimow aus dem Jahr 1985, der in der DDR unter dem Titel „Geh und sieh“ lief. „Ich fand es ziemlich gewagt, so ein Buch, das genretechnisch alle Rahmen sprengt, in der Kategorie Übersetzung zu nominieren“, meint Weiler Richtung Jury in seiner improvisierten Dankrede. Für ihn ist „Feuerdörfer“ ein Buch, das uns hilft, wahrzunehmen, was heute in Belarus und in ganz Osteuropa geschieht, mit welchen Begriffen Schindluder getrieben wird. „In Zeiten, wo Adolf Hitler plötzlich Kommunist geworden ist, schaden historische Texte nicht.“

Irina Rastorgueva, die mit „Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung“ (Matthes & Seitz Berlin) in der Kategorie Sachbuch/Essayistik gewann, führt mit unerbittlicher Anschaulichkeit vor, wie Putins Propaganda-Maschine funktioniert: Ein toxischer Coctail von dreisten Lügen, Beschimpfungen, Halbwahrheiten ersetzt die russische Wirklichkeit – Steve Bannons Medienstrategie „Flooding the zone with shit“ läuft in Trumps USA durchaus ähnlich. Für die Jury versteckt sich jedoch auch ein Hoffnungsschimmer in Rastorguevas Buch: Es biete auch einen Werkzeugkasten für den Widerstand an, ein Kapitel in Comicform gibt gar sehr konkrete Ratschläge für die Teilnahme an Demonstrationen. „Ein Buch, so drängend und klar, wie es einst Victor Klemperers LTI war.“ Kristine Bilkau, die mit ihrem Roman „Halbinsel“ (Luchterhand) den Preis in der Kategorie Belletristik gewann, war vor zehn Jahren mit ihrem Erstling in Leipzig. Während sie die ersten Interviews ihres Autorinnenlebens gab, spazierten Mann und Kind durch den Leipziger Zoo. Noch heute, das Kind von damals ist fast 18, spült es die Bilder von damals in Bilkaus Smartphone. „Was für ein atemloses Jahrzehnt liegt eigentlich hinter uns“, muss die Autorin dann denken. In ihrem Roman geht es um eine Mutter, die Zuversicht für ihre Tochter retten will – weil sie selbst dieses zuversichtliche Kind dringend braucht, um hoffnungsvoll bleiben zu können. Die 24-jährige sehnt sich allerdings nicht nach „Hoffnungsfloskeln“, sondern nach Aufrichtigkeit bei dem, was in der Welt geschieht. „Für uns Ältere“, so Bilkau in ihren zu Herzen gehenden Dankesworten, „klappen mehr und mehr Gewissheiten zusammen wie Kartenhäuser. Aber für die Jüngeren, die nur diese atemlosen Jahre mit Pandemie, Kriegen, Flucht und Vertreibung, der Klimakatastrophe kennen, ist das schon die ganze Welt. Wir schulden es unseren Kindern, uns besser um die Zukunft zu kümmern.“
