Autor: Nils Kahlefendt

Moderator Kurt Snoecx mit Ephameron und Judith Vanistendael in der Hendrik Conscience Heritage Library in Antwerpen (c)nk

„Comic ist ein Medium, kein Genre!“ 
15. März 2024
Alles außer flach (5): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämischen Comic-Pionierinnen Ephameron und Judith Vanistendael
Autor: Nils Kahlefendt

Moderator Kurt Snoecx mit Ephameron und Judith Vanistendael in der Hendrik Conscience Heritage Library in Antwerpen (c)nk

„Comic ist ein Medium, kein Genre!“ 
15. März 2024
Alles außer flach (5): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämischen Comic-Pionierinnen Ephameron und Judith Vanistendael

Belgien ist die Heimat von Hergé, dem Schöpfer von Tim und Struppi, und auch heute noch das Comic-Land schlechthin. Zu den spannendsten Comic-Künstlerinnen Flanderns, die universelle Menschheits-Themen auf sehr intime Weise angehen, zählen Ephameron, die 1979 unter dem bürgerlichen Namen Eva Cardon geboren wurde, und Judith Vanistendael, Jahrgang 1974, die bereits zwei Mal für den Grand Prix des Festivals in Angoulême nominiert wurde, der definitive Ritterschlag in der Comic-Welt. Inzwischen lehren beide auch an der Kunsthochschule Sint-Lukas in Brüssel. 

Ephameron (c)nk

Comics las Eva Cardon alias Ephameron schon als Kind, ihr Vater hatte eine gute Sammlung. Später jobbte sie bei Mekanik Strip in Antwerpen, einer der besten Comic-Buchhandlungen Europas. Doch eigentlich hat sie immer mehr geschrieben als gezeichnet, noch an der Kunsthochschule: „Wir waren sehr frei, und es drehte sich immer um Geschichten mit Bildern. Das war leichter, als nur zu schreiben – denn da musst du erst ein Bild im Kopf eines Anderen erzeugen.“

Judith Vanistendael war schon im zweiten Studienjahr an der Kunsthochschule Sint-Lukas in Brüssel, als sie Persepolis von Marjane Satrapi entdeckte. Der Comic-Roman, vor 20 Jahren erschienen, schlug wie eine Bombe bei ihr ein: „Ich dachte: OK – du kannst ALLES machen: Du kannst total politisch sein, ohne dich dem Mainstream anzudienen. Du kannst einfach jede Geschichte erzählen, die Du erzählen willst, in jedem Stil. Ich hab’s kapiert: Comic ist ein Medium, kein Genre!“  

Die Verwendung von autobiografischen Elementen – heute würde man modisch „autofiktional“ sagen – ist für beide Künstlerinnen zentral. „Wir zwei zusammen“, Ephamerons hoch gelobter erster Comic-Roman, ist ein fragmentarischer, aber dadurch nicht weniger intensiver Bericht über die Demenz-Krankheit und den Tod ihres Vaters. Ihr jüngster Comic mit dem doppeldeutigen Titel “Nicht mehr allein” ist Teil ihrer praxisorientierten Doktorarbeit – und visualisiert Erfahrungen früher Mutterschaft. „Es war wunderbar zu sehen, dass ein Leben endete – aber ein neues begann. Und wie sich beide Kurven überschnitten. Als dann das erste Buch beendet war, wusste ich: Das würde mein neues Buch werden, ein Diptychon von Leben und Tod.“

Judith Vanistendael (c)nk

In ihrem vierten Lang-Comic, Penelopes zwei Leben, erzählt Judith Vanistendael in skizzenhaft wirkenden Tusche-Bildern von einer Frau, die zwischen zwei Welten steckt – und daran zu zerbrechen droht: Hier der Job als Chirurgin für eine Hilfsorganisation im syrischen Bürgerkrieg – dort das Familienleben mit Mann und Tochter in Brüssel. Aktuell arbeitet Vanistendael an einem Comic über den Klimawandel, der in einer nahen Zukunft rund 300 Kilometer nördlich des Polarkreises spielt. Belgien ist überflutet, die Protagonistin auf der Flucht – dennoch will Vanistendael dem Desaster lachend ins Auge schauen. 

Wenn ich sprechende Bäume brauche, zeichne ich die einfach! 

Judith Vanistendael

Für einen Film bräuchte sie ein Millionen-Budget – ihren Comic kann sie im Wohnzimmer zeichnen: „Wenn ich sprechende Bäume oder Tiere brauche, oder verrücktes Technik-Zeugs – dann zeichne ich das einfach! Ich kann mir die Welt so vorstellen, wie ich das möchte. Für diese Art von Science-Fiction ist es großartig, einfach perfekt!“  

Avantgarde meets Bibliotopia: Judith & Eva in den wunderbaren Räumen der Hendrik Conscience Heritage Library (c)nk

Wenn das Klima selbst als Figur in der Geschichte auftreten soll, kostet es nur ein Fingerschnipsen. Mit der hundertjährigen Tradition des Comiczeichnens im Rücken testen wache Künstlerinnen wie Ephameron und Judith Vanistendael die Grenzen des Mediums immer wieder neu aus. 

Wann & Wo:

Ephameron und Judith Vanistendael sind mit ihren Arbeiten in der Ausstellung Schön mich kennenzulernen. Comics und Autobiografie vertreten, die am 19. März im Deutschen Buch- und Schriftmuseum eröffnet wird und sieben aktuelle Comic-Positionen aus den Niederlanden und Flandern vorstellt. Judith Vanistendael präsentiert auf der Leipziger Buchmesse auch ihr neuestes Buch: Es heißt Atan von den Kykladen und ist bei Reprodukt erschienen. 

Beitrag teilen

Weitere Beiträge, die Sie interessieren könnten

Leipzig liest Slider

Alles außer flach! 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 5: Der opulente Gastlandauftritt der Niederlande und Flanderns war eine intelligent orchestrierte Charme-Offensive fürs deutsche Lesepublikum

Literarisches Leben Slider

„Gute Bücher übersetzen ist leicht!“ 

20 Jahre Preis der Leipziger Buchmesse (4): 2018 ging der Preis in der Sparte Übersetzung an Sabine Stöhr und Jurij Durkot für ihre Übertragung von Serhij Zhadans Roman „Internat“. Inzwischen hat der Ukrainer, der lange mit Worten und Musik für die Sache seines Landes gekämpft hat, zur Waffe gegriffen.

Slider Wir

Back to the Roots 

Von der klassischen ‚PK’ bis ‚unter drei’: Der Thüringer Felix Wisotzki, Pressesprecher der Leipziger Buchmesse, organisiert die Kommunikation des Branchen-Großereignisses. Mit der Arbeit fürs Buch ist der studierte Amerikanist zu einer frühen Leidenschaft zurückgekehrt

Leipzig liest Slider

Fest des freien Wortes 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 4: Mit Leipzig liest swingte eine ganze Stadt vier Tage lang im Takt der Literatur. Die heißgeliebte fünfte Jahreszeit – sie war zurück!

Literarisches Leben Slider

Fortüne & Phantasie 

Buchmesse-Nachschlag, Teil 3: In Zeiten zunehmender Markt-Konzentration stehen Independent-Verlage für eine bunte, vielfältige Bücherlandschaft. In Leipzig kommen auch die Kleinen groß raus

International Slider

Wahres Wunder Freundschaft

Buchmesse-Nachschlag, Teil 1: Die Buchmesse eröffnete mit Bundeskanzler Olaf Scholz und der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung an Omri Boehm. Der Gaza-Konflikt platzte in einen Festakt hinein, in dem es um Identitätspolitik und ihre Überwindung ging

Leipzig liest Slider

„Vor allem Frauen“ 

Alles außer flach (3): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Die flämische Schriftstellerin Annelies Verbeke

Leipzig liest Slider

Und dann hat’s BUMM! gemacht

Alles außer flach (4): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Matthijs de Ridder, der die flämische Avantgarde-Ikone Paul van Ostaijen an die Pleiße holt

Leipzig liest Slider

Please look at the Basement! 

Alles außer flach (2): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Der flämische Schriftsteller und Bildende Künstler Maarten Inghels

Leipzig liest Slider

Digitale Literaturwelten 

Alles außer flach (1): In einer kleinen Serie stellen wir kreative Köpfe aus den Niederlanden & Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, vor. Heute: Poetische VR und eine Geschichten-Erzählmaschine

Literarisches Leben Slider

Starke Frauen

Kurt Wolff Preis für den AvivA Verlag: Seit einem Vierteljahrhundert bringt Britta Jürgs mit Energie und Spürsinn die weiblichen Stimmen der Weltliteratur zur Geltung 

Leipzig liest

See you soon!

Der ganz normale Smalltalk-Wahnsinn – auf der Buchmesse treibt er mitunter ganz absonderliche Blüten. Selbst höfliche Me