Belgien ist die Heimat von Hergé, dem Schöpfer von Tim und Struppi, und auch heute noch das Comic-Land schlechthin. Zu den spannendsten Comic-Künstlerinnen Flanderns, die universelle Menschheits-Themen auf sehr intime Weise angehen, zählen Ephameron, die 1979 unter dem bürgerlichen Namen Eva Cardon geboren wurde, und Judith Vanistendael, Jahrgang 1974, die bereits zwei Mal für den Grand Prix des Festivals in Angoulême nominiert wurde, der definitive Ritterschlag in der Comic-Welt. Inzwischen lehren beide auch an der Kunsthochschule Sint-Lukas in Brüssel.
Comics las Eva Cardon alias Ephameron schon als Kind, ihr Vater hatte eine gute Sammlung. Später jobbte sie bei Mekanik Strip in Antwerpen, einer der besten Comic-Buchhandlungen Europas. Doch eigentlich hat sie immer mehr geschrieben als gezeichnet, noch an der Kunsthochschule: „Wir waren sehr frei, und es drehte sich immer um Geschichten mit Bildern. Das war leichter, als nur zu schreiben – denn da musst du erst ein Bild im Kopf eines Anderen erzeugen.“
Judith Vanistendael war schon im zweiten Studienjahr an der Kunsthochschule Sint-Lukas in Brüssel, als sie Persepolis von Marjane Satrapi entdeckte. Der Comic-Roman, vor 20 Jahren erschienen, schlug wie eine Bombe bei ihr ein: „Ich dachte: OK – du kannst ALLES machen: Du kannst total politisch sein, ohne dich dem Mainstream anzudienen. Du kannst einfach jede Geschichte erzählen, die Du erzählen willst, in jedem Stil. Ich hab’s kapiert: Comic ist ein Medium, kein Genre!“
Die Verwendung von autobiografischen Elementen – heute würde man modisch „autofiktional“ sagen – ist für beide Künstlerinnen zentral. „Wir zwei zusammen“, Ephamerons hoch gelobter erster Comic-Roman, ist ein fragmentarischer, aber dadurch nicht weniger intensiver Bericht über die Demenz-Krankheit und den Tod ihres Vaters. Ihr jüngster Comic mit dem doppeldeutigen Titel “Nicht mehr allein” ist Teil ihrer praxisorientierten Doktorarbeit – und visualisiert Erfahrungen früher Mutterschaft. „Es war wunderbar zu sehen, dass ein Leben endete – aber ein neues begann. Und wie sich beide Kurven überschnitten. Als dann das erste Buch beendet war, wusste ich: Das würde mein neues Buch werden, ein Diptychon von Leben und Tod.“
In ihrem vierten Lang-Comic, Penelopes zwei Leben, erzählt Judith Vanistendael in skizzenhaft wirkenden Tusche-Bildern von einer Frau, die zwischen zwei Welten steckt – und daran zu zerbrechen droht: Hier der Job als Chirurgin für eine Hilfsorganisation im syrischen Bürgerkrieg – dort das Familienleben mit Mann und Tochter in Brüssel. Aktuell arbeitet Vanistendael an einem Comic über den Klimawandel, der in einer nahen Zukunft rund 300 Kilometer nördlich des Polarkreises spielt. Belgien ist überflutet, die Protagonistin auf der Flucht – dennoch will Vanistendael dem Desaster lachend ins Auge schauen.
Wenn ich sprechende Bäume brauche, zeichne ich die einfach!
Judith Vanistendael
Für einen Film bräuchte sie ein Millionen-Budget – ihren Comic kann sie im Wohnzimmer zeichnen: „Wenn ich sprechende Bäume oder Tiere brauche, oder verrücktes Technik-Zeugs – dann zeichne ich das einfach! Ich kann mir die Welt so vorstellen, wie ich das möchte. Für diese Art von Science-Fiction ist es großartig, einfach perfekt!“
Wenn das Klima selbst als Figur in der Geschichte auftreten soll, kostet es nur ein Fingerschnipsen. Mit der hundertjährigen Tradition des Comiczeichnens im Rücken testen wache Künstlerinnen wie Ephameron und Judith Vanistendael die Grenzen des Mediums immer wieder neu aus.
Wann & Wo:
Ephameron und Judith Vanistendael sind mit ihren Arbeiten in der Ausstellung Schön mich kennenzulernen. Comics und Autobiografie vertreten, die am 19. März im Deutschen Buch- und Schriftmuseum eröffnet wird und sieben aktuelle Comic-Positionen aus den Niederlanden und Flandern vorstellt. Judith Vanistendael präsentiert auf der Leipziger Buchmesse auch ihr neuestes Buch: Es heißt Atan von den Kykladen und ist bei Reprodukt erschienen.