Doch, Nikola Richter, die Verlegerin von mikrotext, verfügt über Selbstbewusstsein und Humor, und von beidem nicht zu knapp. Wie, bitte, würde sich sonst erklären lassen, dass sie einen Erzählband des in Charkiw geborenen Anton Artibilov ins Jubiläumsprogramm gehoben hat, der den schönen Titel „Der Niedergang des mikrotext Verlags“ trägt? Die zugehörige Geschichte („Mein Horrormittagessen mit Nikola Richter“) war ein Geschenk an die Verlegerin zum zehnjährigen Verlagsgeburtstag 2023: Artibilov, der auch anderen Orts als Battle-Rapper Josef Steinschleuder auftritt, trug sie live auf der Jubiläumsparty vor. „Nach den ganzen Jubel-Arien habe ich mir von Anton gewünscht, dass er mich disst“, sagt Richter. Im Rap gilt das als Ehrenbezeugung – und in der Literaturgeschichte wohl auch, denken wir nur an Thomas Bernhards Dramolett „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ (1986).
Richter kann sich bestelltes Störfeuer leisten. Für ihren 2013 gegründeten Verlag war 2023 ein extrem erfolgreiches Jahr: „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter, das im April den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewann, mauserte sich zum „Spiegel“-Bestseller und liegt inzwischen in der siebten Auflage vor. Elfi Conrads „Schneeflocken wie Feuer“, von Kritik wie Publikum gleichermaßen geliebt, liegt in fünfter Auflage vor. Was dazu führte, dass Richter auf einmal Aufgaben stemmen musste, die normaler Weise großen Publikumsverlagen vorbehalten bleiben, von der Beschaffung größerer Mengen Papier über die Organisation von Nachdruck-Terminen bis zum Bestseller-Marketing.
Dass ihr Verlag, der zunächst rein digital gestartet war, noch immer generös als Ausnahme-Phänomen bewertet wird, nervt Richter zuweilen massiv. Dabei hat sie, von Aboud Saeed („Der klügste Mensch im Facebook“) bis Ruth Herzberg („Wie man mit einem Mann unglücklich wird“) einfach nur kontinuierlich mit ihren Autorinnen und Autoren gearbeitet. Von Anfang an waren das sehr besondere Stimmen, die bei der klassischen Ochsentour zum Verlagsvertrag wohl eher durchgerutscht wären. Richter war es, die die hierzulande noch unbekannte Stefanie Sargnagel („In der Zukunft sind wir alle tot“) 2014 als erster deutscher Verlag veröffentlichte, mit Elfi Conrad brachte sie eine 80jährige Debütantin. „2023 war der gleiche Spirit wie 2013“, sagt sie. „Jetzt verstehen nur mehr Leute, was ich mache.“ Neue Erzählformen sind dabei hoch willkommen – egal, ob es die „Kryptopoeme“ eines Yevgeniy Breyger oder Sina Kamala Kaufmanns „nahphantastische Erzählungen“ sind.
Auch das Erfolgsjahr 2023 war kein reines Glücks-Momentum, das irgendwie vom Himmel gefallen wäre. Dank einiger kluger unternehmerischer Weichenstellungen hatten die Jahre seit Ausbruch der Corona-Pandemie für mikrotext sehr gut funktioniert. Mit dem Preisgeld des ersten Deutschen Verlagspreises (mikrotext wurde 2019, 2020 und 2023 ausgezeichnet) setzte Nikola Richter ihren Webshop auf – der punktgenau mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 online ging. Eine nachhaltige Investition in die Zukunft. 2020 schrieb Nikola Richter zum Jahr des offenen Verlags aus. Motto: „Zusammen verlegt man weniger allein.“
Nach fast sieben Jahren One-Woman-Show fühlte die Verlegerin, wie sich die große Müdigkeit des Landes auch bleischwer auf ihre Schultern legte – und dachte gelegentlich gar über eine vorübergehende Pause ihrer Verlegertätigkeit nach. Ole Rauch vom „Jacobin“-Mag riet zur Vorwärts-Verteidigung: „Mach doch das Gegenteil! Öffne den Verlag!“ Am Ende entstanden sechs Titel mit sechs Gastverlegerinnen – alle Projekte waren über Crowdfunding durchfinanziert. Die Arbeit mit den Teilzeitverlegerinnen, die sich für andere einsetzen, war eine beglückende Erfahrung – auch wenn 2020 alles andere als ein Sabbatjahr für Richter wurde.
Nach dem rasanten 2023 will es die Verlegerin im elften, dem „Schnapsjahr“ 2024 mit zwei statt vier Titeln pro Saison etwas ruhiger angehen lassen. Mely Kiyak ist mit einer gänzlich neu überarbeiteten Ausgabe von „Dieser Garten“ am Start, in der wir die Benediktinerinnen der Abtei zur Heiligen Maria in Fulda und den wohl ersten nachhaltigen Garten Deutschlands kennenlernen. Isobel Markus, Berliner Salonière des 21. Jahrhunderts, beschreibt in ihrem „Dating Roman“, wie sich zwei Freundinnen zusammentun, um die Hochs und Tiefs des Online-Datings gemeinsam durchzustehen.
Gut zu tun hat Nikola Richter trotzdem: Anfang April hat „Unser Deutschlandmärchen“ Premiere am Berliner Gorki, die Lesereise von Dinçer Güçyeter geht an gefühlt 100 Stationen weiter – und 2025 ist ja auch noch ein Jahr. Der Kurt-Wolff-Förderpreis ist bei all dem „eine große Ehre“, freut sich die Verlegerin. „Ich arbeite nicht in großen Bögen, sondern versuche, für jedes einzelne Buch das Beste zu machen“. Das ist gewiss keine Schnapsidee. Auch im elften Jahr macht ihr Independent-Schnellboot zwischen all den großen Verlags-Tankern bella figura.