„Verdamp lang her“ kommt einen in den Sinn, der Song der Kölschrock-Dinos von BAP, den Wolfgang Niedecken 1981 schrieb. Und der, der Legende zufolge, der Band die Einladung bescherte, als Vorgruppe der Rolling Stones zu spielen. Bei Oliver Zille war die Freude mit Händen zu greifen über die Rückkehr einer „ganz realen, brummenden, quirligen, lebendigen Buchmesse“. Lange hat es gedauert, aber: „Wirklich gute, starke Dinge stehen fest!“ In der sonnendurchfluteten Glashalle dankte der Buchmesse-Direktor allen, „die uns in den wilden Zeiten zur Seite gestanden und die Treue gehalten haben“. Und, klar doch: Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer, all die Transporteure der Literatur und zum Schluss die Leserinnen und Leser bleiben die Seele dieser Buchmesse. Deren Kraftzentrum und erster magischer Moment ist die Preisverleihung unterm Glashallenrund, Donnerstag um Punkt vier. Dank der Zauberhände von Jörg Wagner und seiner Profis von SHOW concept an den Reglern wurden diesmal zwei Nominierte, die sich gerade auf anderen Kontinenten befanden, zugeschaltet. Lessons learned, hybride Umsetzungen gehören seit Corona zum kleinen Event-Einmaleins. Nur live ist schöner!
Jury-Sprecherin Insa Wilke, die uns im letzten Jahr auf diesem Blog mit den Kriterien ihrer Arbeit vertraut machte, ließ nun auch die gespannten Gäste in der Glashalle noch einmal ins Innerste des „Jury-Körpers“ blicken, der als einheitliches Ganzes sowieso nicht denkbar ist. Es geht um sieben sehr unterschiedliche Menschen, die in einer Art „Vertrauensraum“ den „Lektüren der Anderen“ begegnen können. Nicht um die vorgeblich „besten“ Bücher gehe es, sondern um solche, von denen die Jurorinnen und Juroren annehmen, dass „sie wichtig in unserer Zeit“ sind. „Wir lesen alle mit unseren Erfahrungen, Vorurteilen oder Hoffnungen“, so Wilke. Das mache es möglich, „sich auf ein Gegenüber einlassen zu können“. Was nicht heißt, Analyse und Erkenntnis hinten unter fallen zu lassen.
Mit 85 Jahren hat die argentinische Schriftstellerin, Dichterin, Essayistin und Übersetzerin Aurora Venturini (1922-2015) einen aufregenden Coming-of-Age-Roman geschrieben, der nun endlich auch international entdeckt wird: Johanna Schering hat „Die Cousinen“ für dtv aus dem argentinischen Spanisch übersetzt – und damit hoch verdient den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung bekommen. „Venturini hat in ihrer Heimat 60 Jahre unpubliziert unter dem Radar der Öffentlichkeit gestanden“, sagte Schering in einer ersten Reaktion. Ihre deutsche Übersetzung sei dazu „vergleichsweise kurze sechs Monate unbeachtet geblieben“. Regina Scheer, die als Autorin und Herausgeberin mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte veröffentlicht und für „Machandel“ (Knaus 2014) den Mara-Cassens-Preis erhalten hat, hatte nicht damit gerechnet, für ihr neues Buch „Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution (Penguin Random House) in der Sachbuch-Kategorie zu gewinnen. „Hertha Gordon-Walcher steht für so viele vergessenen Frauen. Sie hat sich nie ins Licht gedrängt. Nun ist sie in einem gewissen Sinn im Licht!“
Als Dincer Gücyeter für sein Buch „Unser Deutschlandmärchen“ (mikrotext) von der sächsischen Staatsministerin für Kultur, Barbara Klepsch, zum Sieger in der Kategorie Belletristik ausgerufen wird, brandet Jubel in der Glashalle auf. Der sich noch verstärkt, als der Mann aus Nettetal seine Frau auf die Bühne holt, sie fest an sich drückt und davon erzählt, dass sein jetzt prämierter Roman ohne sie niemals fertig geworden wäre – weil Ayse ihn ermutigt habe, zwölf Jahre lang, durchzuhalten, weiterzumachen, an sich zu glauben, die Nudeln würden schon reichen. Große Heiterkeit, als Gücyeter – der Autor, Verleger, Theatermacher, Gabelstaplerfahrer und Hans-Dampf-in-allen-Gassen – davon erzählt, wie er im vergangenen Jahr den Peter- Huchel-Preis für seinen Lyrikband ”Mein Prinz, ich bin das Ghetto” erhalten habe. Er war zu seiner Mutter gelaufen, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Die Antwort der alten Dame: „Zwei Jahre Pandemie, und die Leute haben den Verstand verloren.“
Als Ayse längst wieder sitzt, ruft Gücyeter die anderen Belletristik-Nominierten zu sich, um seinen Preis zum Preis für alle umzudeuten. Als Erstes springt Clemens J. Setz auf, dann stehen sie da tatsächlich alle nebeneinander, Gücyeter, Setz, Ulrike Draesner, Joshua Groß, Angela Steidele, und halten sich kurz im Arm. Es ist der Signature-Moment der diesjährigen Preisverleihung. Und erinnert ein wenig an Klagenfurt im letzten Sommer, wo die vierzehn Autorinnen und Autoren dort vor der Preisvergabe diskutiert und sogar darüber abgestimmt hatten, ob sie die Preisgelder solidarisch untereinander aufteilen sollen. Die große Mehrheit hatte sich aber dagegen entschieden. „Schade, dass es schon wieder vorbei ist“, sprach Oliver Zille nach 60 Minuten vielen aus dem Herzen. Doch nach der Preisverleihung ist vor der Preisverleihung: In exakt 329 Tagen wird man sich wiedersehen.