Dass Leipzig liest, weiß eh jeder, und ich, quod erit demonstrandum, auch. Und noch etwas weiß jeder, ich auch, ich hab es nur nicht ernst genommen: Dass nämlich, wenn der Messetag vorüber ist, der schlechteste Moment ist, um in die Straßenbahn Richtung Stadt zu steigen. Dann ist die nämlich wie zur Rushhour in Tokio. Ich tat es trotzdem und hatte das unverdiente Glück, in dem Totalgedrängel noch einen Klappsitz zu erwischen. Auf dem saß ich also, die Tüte mit Büchern und Prospekten zwischen den Knien und direkt vor mir eine sehr schöne Frau, die mit dem Herrn, der neben mir saß, sich sehr lebendig in einer Sprache unterhielt, die ich absolut nicht erkennen konnte. Eine Weile ergötzte ich mich an dem Rätselraten und dem Klang, dann zog ich einen Gedichtband aus der Tüte, den mir am Nachmittag ein befreundeter Verleger in die Hand gedrückt hatte. Ich fing an zu lesen (s. o.). Es dauerte nicht lange, da beugte sich die Schöne über meinen Scheitel und sagte: „Da lesen sie aber gerade ein sehr schönes Buch.“ Und ich: „Ehe Sie mir das erklären, verraten Sie mir bitte, in welcher Sprache ihr beide geredet habt.“ „Albanisch“, sagte sie, und jetzt wusste ich auch (das erklär ich ein andermal), woher sie das Buch kannte. Bis zum Hauptbahnhof unterhielten wir uns über das Wunder des Gedichts, wie viel Kunst und Welt und Leser-Ich da auf knappstem Raum zueinander finden. Wir merkten das eigene Glück am Anderen, und Schöneres kann es kaum geben.
Jochen Jung, geboren 1942 in Frankfurt/Main, aufgewachsen in Eckernförde an der Ostsee, war lange Jahre Lektor und Geschäftsführer des Residenz Verlags in Salzburg. Im Jahr 2000 gründete er dort den eigenen Verlag Jung und Jung.