„Nachbarn“ heißt die Kurzgeschichte, mit der sich Madeleine Prahs 2005 in München für die Autorenwerkstatt „Manuskriptum“ bewirbt. Die Frage des Kursleiters, ob dies der Anfang eines Romans sei, lässt sie stutzen. Doch sie merkt: Ihr Stoff lässt sie nicht los: Sechs Menschen, vom arbeitslos gewordenen Eisenbahner bis zum Intellektuellen mit IM-Vergangenheit, die ihre biografischen Wurzeln in der DDR haben – und sich mit ihren Sehnsüchten und Träumen plötzlichin einem von Grund auf veränderten Leben behaupten müssen. Prahs verließ die IndustriestadtChemnitz, die damals noch Karl-Marx-Stadt hieß, 1989 zusammen mit ihren Eltern. Und fand sich mit Neun in der Idylle Oberbayerns wieder. Die Suchbewegung ihrer Figuren ist ihr nicht fremd.
Solche Verwandtschaft, weiß Prahs, kann anstrengend sein: „Man will sie aus seinem Leben schieben. Doch wenig später stehen sie wieder vor der Tür.“ Irgendwann ist klar: „Ich muss sie zu Ende schreiben.“ Sechs Leben, begleitet über eine Zeitspanne von 17 Jahren: Es gibt Tage, an denen Madeleine Prahs vor den Stoffmassen kapitulieren möchte. Sie arbeitet weiter, verrennt sich in Sackgassen, nimmt falsche Abbiegungen. Doch ihre Figuren kennt sie bald besser als sich selbst.
Mit 40 Seiten bewirbt sie sich 2007 für die Autorenwerkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin. Als die Zusage kommt, ist sie überrascht und glücklich zugleich. Zehn Jahre zuvor war die Werkstatt begründet worden, ihre Mentoren Katja Lange-Müller und Burkhard Spinnen arbeiteten damals mit jungen, noch unbekannten Autoren wie Judith Hermann oder Georg Klein. Vier lange Wochenenden trifft Prahs im geschützten Raum der Wannsee-Villa auf Gleichgesinnte, diskutiert wird mit offenem Visier. Kritik, sagt Prahs, kann sehr produktiv sein. „Den eigenen Ton gilt es jedoch auch zu schützen – sonst landet man in der Beliebigkeit.“
Als sie im Rahmen der „Prosa Prognosen“ auf der Leipziger Buchmesse ihren Text erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorstellt, ist sie nervös; zu wenig Schlaf in den Nächten zuvor. Es läuft gut: Mehrere Lektoren hinterlassen diskret ihre Visitenkarten. Doch Prahs will nichts Unfertiges aus der Hand geben. Irgendwann ist der Gipfel erreicht, fügen sich die Puzzleteile plötzlich zu einem Ganzen. Dann kann Schreiben wie eine Schussfahrt vom Mont Ventoux sein. „Man strampelt sich ab – und auf einmal ist alles ganz einfach.“ Am Ende ist es der Schriftsteller Michael Wildenhain, ihr Seminarleiter an der Schreibwerkstatt des Berliner Brecht-Forums, der das fertige Roman-Manuskript an den Deutschen Taschenbuchverlag empfiehlt. Ein Glücksfall, auch für Lektor Günther Opitz: „Es war sofort spürbar: Der Text ist gewachsen, sehr dicht, durchgearbeitet. Da kann jemand erzählen!“ Als Madeleine Prahs 2014 die ersten Exemplare ihres Romans in der Post findet, der eigene Name auf dem Umschlag, hat der Moment nach Jahren des Kampfes etwas Unwirkliches. Freude? Ja, natürlich. Das Buch wird nun seinen eigenen Weg nehmen. Doch auch Loslassen will gelernt sein. „Plötzlich reagiert man wie eine überbesorgte Mutter. Und möchte seinen Figuren am liebsten hinterher rufen: Bitte geht nicht bei Rot über die Kreuzung!“
Bildquelle: Nils A. Petersen