Anders als klassische Literaturfestivals ist „Leipzig liest“ als Marketing-Verstärker für den Messeauftritt der Verlage gebaut. Jedem Aussteller steht die Teilnahme am Programm offen. Das verlangt Organisatoren wie hunderten literaturbegeisterten Helfern in der Stadt logistische Höchstleistungen ab – und macht „Leipzig liest“ so bunt und vielfältig wie die Welt der Bücher selbst. Natürlich ist das Lesefest mediales Großereignis und Teil der Event-Kultur rund ums Buch. Doch lautes Trommeln und leise Töne schließen sich nicht aus – die Mischung macht’s!
In Leipzig geben sich internationale Star-Autoren ein Stelldichein mit ihren Kollegen aus den vermeintlich „kleineren“ Sprachräumen an Europas Rändern. Top-Journalisten und Bücher schreibende Politiker treffen auf Pop-Größen wie die „Ärzte“ oder „Wir sind Helden“, während Juli Zeh oder Lokal-Matador Clemens Meyer ein paar Straßen weiter in überfüllten Sälen auftreten. Leipziger Nächte lassen die Grenze zwischen „Leben“ und „Lesen“, über die im Feuilleton gern räsoniert wird, ganz einfach vergessen. Gerade junge Autoren und Verlage, die heute noch als Geheimtipp gelten, punkten bei „Leipzig liest“ mit originellen Veranstaltungsformaten in ausgefallenen Locations.
Viele von denen, die der „Langen Leipziger Lesenacht“ (L3) in der Moritzbastei oder Auftritten junger Dichter in Clubs mit so exotischen Namen wie Das Kapital, Horns Erben oder Laden für Nichts gebannt folgen, sind keine passionierten Buchkäufer. Noch nicht? Wer die Jungen erreichen will, muss ihre von Facebook, Instagram & Co geprägten Erlebniswelten ernst nehmen und – wie „Leipzig liest“ – Mut zum Experiment aufbringen: Beim Democracy Slam, den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) mit der Leipziger Buchmesse organisiert hat, entwickeln Kinder und Jugendliche unter Anleitung erfahrener Slammer eigene Texte, die sich um Gerechtigkeit, Diversität, aber auch Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit drehen. In einem digitalen Lernlabor können sich die Kids als Medienmacher erproben – hier ist nicht nur ihre Stimme, sondern ihre Story gefragt.
Und auch viele Kinder- und Jugendbuchverlage nutzen „Leipzig liest“, um ihre Klientel auf unkonventionelle Weise für sich zu gewinnen. Kids und Teens sollen Bücher uncool finden? In Leipzig lauschen sie mit glänzenden Augen, wenn Kirsten Boie, Ingo Siegner, Franziska Gehm oder Gerda Raidt lesen und zeichnen. Sie fotografieren ihre Helden per Handy, tragen stolz selbstgeschriebene Geschichten vor oder versuchen sich an eigenen Mangas. Keine Parallelwelten, sondern zwei Seiten einer Buchmesse-Medaille.
Mit zuletzt mehr als 3600 Veranstaltungen an 550 Orten und 3400 beteiligten Akteuren blickt Europas größtes Lesefest heute auf eine Erfolgsgeschichte ohne gleichen zurück. Viele Ideen und Initiativen der Literaturvermittlung haben von Leipzig aus ihren Weg in den gesamten deutschsprachigen Raum genommen. Die im Frühjahr 2001 gestartete, eindeutiger auf Lesen als Event setzende LitCologne oder die 2009 im Rahmen der Frankfurter Buchmesse aus der Taufe gehobenen „Open Books“ sind nur zwei Beispiele von vielen. Dem Original hat die Konkurrenz nicht geschadet – im Gegenteil.
Im 28. Jahrgang präsentiert sich „Leipzig liest“ so frisch wie am ersten Tag. Zu klassischen Formaten wie den „Jüdischen Lebenswelten“ gesellten mit den Jahren neue Spielorte: Vom Forum Die Unabhängigen über das Café Europa oder der Lesebühne junger Verlage in den Messehallen bis zur L3-Lesung in der Moritzbastei.
Mit der liebevoll sanierten Kongresshalle am Zoo ist ein phantastischer Spielort für große Events hinzugekommen – Karten für den seit 2016 ins Programm genommenen Leipzig liest Abend sind in der Regel rasch ausverkauft. Seit 2010 gibt es auf dem Messegelände ums Musik-Café Klang-Quartier den konzertierten Auftritt von Musikverlagen – in der Stadt der berühmten Komponisten und Kapellmeister beinahe ein Muss.
Von Leipzig lernen heißt siegen lernen? Auch in der Messestadt an der Pleiße bewegt man sich, wie überall, auf dem schmalen Grat zwischen Kostendruck und Innovationszwang. Eingeführte Reihen müssen qualitativ ausgebaut, neue entwickelt werden. Die Messe und ihr Lesefest wollen den Markt nicht nur abbilden, sondern vorausschauend neue Themenfelder entwickeln. Dass in Leipzig am Ende Autoren und Inhalte im Mittelpunkt stehen werden, dürfte bei der Neugier, Leidenschaft und Leselust seiner Bürger so sicher sein wie das Amen in der Nikolaikirche.