Hasskommentare und Fake-News, das gesellschaftliche Klima wird rauer. Mehr denn je braucht unsere Gesellschaft mündige und kritische Bürgerinnen und Bürger, die politische Themen einordnen und Demokratie mitgestalten können. Wie aber können Kindern und Jugendlichen die Regeln einer fairen Auseinandersetzung und politisches Denken vermittelt werden? Ihre politische Bildung wird angesichts der aktuellen Entwicklungen zu einer zentralen Herausforderung für die Buchbranche, Bildungsinstitutionen, ja die ganze Gesellschaft. Mit diesem Appell gingen die vier großen Buch- und Leseförderorganisationen Deutschlands – die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen (avj), der Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ), der Börsenverein und die Stiftung Lesen im Rahmen ihres traditionell an der Leipziger Buchmesse vorgestellten Trendberichts Kinder- und Jugendbuch an die Öffentlichkeit.
Erfahrungsraum Literatur
„Kinder- und Jugendliteratur kann das Interesse an politischen Themen wecken“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung der Buch- und Leseförderer. „Sie bietet Erfahrungsräume, ermöglicht, sich gesellschaftlichen Themen aus unterschiedlichen Perspektiven anzunähern, fördert Empathievermögen sowie kritisches Urteilen.“ Romane oder Sachbücher müssen jedoch nicht nur gelesen, sondern auch diskutiert werden – und hier sind, neben tollen, vielstimmigen Texten, qualifizierte Partner gefragt: Eltern, Lehrer und Erzieher, Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken, Literaturhäuser und andere Bildungs- und Kultureinrichtungen.
Ideen, Methoden, Angebote
Unter dem Motto „Meine Meinung zählt – Junge Menschen mit Büchern für Politik begeistern“ brachten die vier Leseförderer im neuen Forum Politik und Medienbildung der Leipziger Buchmesse Praktiker der Kulturarbeit zusammen. Das Erkenntnisinteresse des bestens besuchten Podiums: Mit welchen Ideen, Methoden und Angeboten lassen sich politisches Interesse und Engagement der jungen Zielgruppe fördern? Moderiert von Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses Köln, trafen Heiko Bergt (agentur bhoch3), Susann Gessner (Justus-Liebig-Universität Gießen), Birgit Schulze-Wehnick (Buchkinder Leipzig) und Susann Struppert (Kinderbuchladen Serifee, Leipzig) in einer spannenden Diskussionsrunde aufeinander.
„Alles kann Lernanlass werden“
Für die Sozialwissenschaftlerin Susann Gessner ist die Frage, ob und wie Kinder und Jugendliche „politisch gebildet“ werden können, zugleich „leicht und schwer“ zu beantworten: „Ich bilde angehende Grundschullehrer aus, die oft Scheu vor politischen Themen zeigen und mit den Kindern lieber über das Leben der Eichhörnchen im Winter sprechen würden. Allerdings geht es nicht unbedingt um die Diskussion der alltäglichen Tagespolitik. Man kann alles zum Lernanlass werden lassen, was das Zusammenleben von Menschen betrifft. Kinderbücher, die das Politische über soziale Zusammenhänge thematisieren, eignen sich hier sehr gut als Türöffner.“ Parallel zum „Trendbericht“ haben die Leseförderer erst jüngst wieder Leseempfehlungen veröffentlicht – doch wie kommen die „pädagogisch wertvollen“ Titel in der Buchhandlung an? Susann Struppert, die mit „Serifee“ Leipzigs ersten Kinderbuchladen betreibt, weiß, was in diesem Spektrum gefragt ist: Bücher zu Familienstrukturen etwa, Titel, die sich mit Krankheit und Trennung auseinandersetzen. Bei der Frage, wie professionell Lehrer und Erzieher neuste Trends der Kinder- und Jugendliteratur in ihre Arbeit einbeziehen, macht die Buchhändlerin indes auf ein Desiderat aufmerksam: „Schulbibliotheken sind oft grauenhaft schlecht ausgestattet.“
Gute Literatur macht den Kopf weit
Braucht es dezidiert „politische“ Kinder- und Jugendbücher, will Moderatorin Dettmann von der Runde wissen. Sozialwissenschaftlerin Gessner ist skeptisch: „Ich habe Probleme, Kinder- und Jugendliteratur von ihrem Nützlichkeitsaspekt her zu betrachten. Für die politische Bildung ist vielmehr anspruchsvolle Literatur eine totale Chance: Sie kann zeigen, dass es nicht nur eine Sichtweise auf die Welt gibt.“ Beispielhaft ist für die junge Wissenschaftlerin etwa die Graphic Novel „Der Traum von Olympia“ von Reinhard Kleist (Carlsen). Der Autor verarbeitet hier die tragische Lebensgeschichte der somalischen Profiläuferin Samia Yusuf Omar, die im Alter von 21 Jahren vor der Küste Maltas ertrank. „Hier zeigt sich, dass gute Bücher oft einen ganz anderen Zugang zu gesellschaftlichen Debatten eröffnen können“, meint Susann Gessner. „Die besten Bücher können ein Thema differenzieren, statt es auf den tagespolitischen Diskurs zu verkürzen.“