Fotos: Nils Kahlefendt
„Es ist schön, im Sommer Eis zu essen. / Es ist schön, im Winter Tee zu trinken. / Es ist schön, auszuschlafen. / Es ist schön, den Tag mit Freunden zu verbringen…“ Der Junge liest seinen selbst geschrieben Text, anfangs stockend, dann immer selbstsicherer. Nach jeder Zeile wirft die Klasse im Chor ein „Es ist schön!“ ein. Call and Response, die Sache kriegt richtig Rhythmus, mein Bein wippt unbewusst mit.
Ein Vormittag in der 8 c am Luther-Melanchthon-Gymnasium in Wittenberg. Keine normale Physik- oder Deutschstunde: Die Klasse beteiligt sich an der zweiten Runde des Democracy Slam, den die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und die Leipziger Buchmesse organisiert haben. Unter Anleitung von erfahrenen Slammern entwickeln Kinder und Jugendliche eigene Texte, die sich um Gerechtigkeit, Diversität, aber auch Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit drehen. Das Format erlaubt es den Kids, ihre Gedanken, Zukunftswünsche und -ängste auf ganz besondere Weise auszudrücken. Die Vorbereitungen für den Slam finden diesmal nicht erst auf der Buchmesse statt, sondern bereits im Vorfeld an verschiedenen Schulen und Bildungseinrichtungen.
Juliane Nitschke, die als Respekt Coach am Wittenberger Gymnasium arbeitet, hat sich mit der 8 c am Democracy Slam beworben – und ist ausgewählt worden. Nitschke ist im Rahmen eines von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey aufgelegten Präventionsprogramms tätig. „Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen über Projekte und Einzelfallarbeit demokratische Werte zu vermitteln und sie gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Extremismen aller Art zu immunisieren“, sagt die studierte Kulturpädagogin. Gerade bereitet sie mit dem Geschichtslehrer ihres Gymnasiums ein Projekt zum Thema Zivilcourage vor.
Inzwischen sind Tische und Stühle an den Rand geräumt; die Schülerinnen und Schüler probieren in einem Sensibilisierungsspiel, wie es sich anfühlt, Macht abzugeben: In kleinen Gruppen und mit geschlossenen Augen navigieren sie durch den Klassenraum, flüstern einander Hinweise und Warnungen zu. Die nächste Aufgabe an diesem Workshop-Vormittag dreht die Verhältnisse wieder um: Was wäre, wenn wir die Bestimmer der Welt wären? Aufgeteilt in Vierer-Teams sollen die Mädchen und Jungen eine Agenda für den Tag des Machtantritts entwickeln. Getuschel, Gelächter, erste Ideen. Es läuft.
Tanasgol Sabbagh, die Leiterin des Workshops, wurde 1993 im iranischen Amol geboren. Seit 2011 tritt sie bundesweit als Profi-Slammerin auf. Sabbagh ist in der Nähe von Frankfurt aufgewachsen und hat in Marburg Orientwissenschaft und Politik studiert; seit zwei Jahren lebt sie in Berlin und ist Stammautorin der Lesebühne „Parallelgesellschaft“. In ihren Texten beschäftigt sie sich häufig mit sozialen und gesellschaftlichen Missständen wie Rassismus oder Sexismus – und auch in den Workshops, die sie für Menschen zwischen 12 und Anfang 20 gibt, spielen diese Themen eine Rolle. Mit Kindern und Jugendlichen arbeitet sie besonders gern: „Ich glaube nicht, das jeder und jede Schriftsteller oder Slam Poetin werden muss“, sagt sie lachend. „Aber der Wettstreit mit Worten ist eine ganz gute Art und Weise, Zugang zu sich selbst zu finden. Kinder darin zu bestärken, ihre ureigensten Gedanken zu formulieren – das ist eine Transferleistung, die im Strengeren Curriculum der Schule oft zu kurz kommt.“
Inzwischen ist die Gruppenarbeitsphase beendet, hat sich die Klasse wieder zum lockeren Kreis formiert. Jede Gruppe wählt einen Sprecher, der die Ergebnisse des „Wenn ich die Welt regieren würde“-Brainstormings vorträgt. „Umweltschutz“, „Recht auf Bildung für alle“ ist zu hören, „Massentierhaltung abschaffen“ und „alle Kriege sofort beenden“. Eine Gruppe möchte, dass in der Schule nur noch „die wichtigsten Fächer“ unterrichtet werden, aber es werden auch Forderungen nach „Schokolade für alle“ laut oder der Wahl des Hamsters zum „National-Tier“. Ein großgewachsener Bursche fordert die „Todesstrafe für Vergewaltiger“, die Absenkung aller Steuern auf zehn Prozent und die Abschaffung von Hartz 4 – „die Leute sollen stattdessen verpflichtet werden, sich Arbeit zu suchen“. Tanasgol Sabbagh ist vermutlich stärkeren Tobak gewöhnt als an dieser auf den ersten Blick so offenen und vorbildlich eingerichteten „Europaschule“, für die Friedensreich Hundertwasser Ende der 90er Jahre einen tristen Plattenbau vom Typ „Erfurt II“ umgestaltete. Der Workshop ist auf gutem Weg: „Ich will, dass die Kids auch bei sich sind – und nicht nur bei den ganz großen Themen.“ Am Messefreitag treten die mutigsten Demokratie-Dichter im Forum Politik und Medienbildung der Buchmesse an – und laden dazu ein, ihre Sicht auf unsere Gesellschaft zu erleben.