Von der Gartenküche weht der Geruch gebratener Maiskolben, ein Sprachgemisch aus aller Herren Länder schwirrt über den langen Holztischen, nebenan packen Straßenmusiker ihre Instrumente aus. In den Prinzessinnengärten am Berliner Moritzplatz, dem Vorzeigeprojekt der deutschen Urban-Gardening-Bewegung, ist die Hipsterdichte zur Mittagszeit beträchtlich: Junge Kreative aus dem benachbarten Aufbau- oder dem Betahaus, noch immer Blaupause aller Co-Working-Spaces der Stadt, kommen zum vegetarischen Essen vorbei oder nutzen die baumbeschattete Idylle mitten im Metropolengetriebe für ein spontanes Meeting. Auch für Micz Flor und Julian Sorge, Geschäftsführer des Berliner Startups Booktype, sind die Prinzessinnengärten so etwas wie ein Lieblingsplatz, eine Oase der Entschleunigung im schnell getakteten Alltag.
In der quecksilbrigen Welt der Medienstartups, in der Programmierer, Texter und Designer in Prag, Toronto oder Belgrad nur einen Mausklick entfernt voneinander arbeiten, sind die beiden keine heurigen Hasen: Flor, studierter Psychologe, hat in den Nullerjahren die Agentur Redaktion und Alltag mitbegründet, die Projekte wie das Jugendmagazin Fluter für die Bundeszentrale für politische Bildung realisierte, und war Berater der Stiftung Media Develeopment Investment Fund, die unabhängige Medienprojekte in Schwellenländern Osteuropas und Asiens unterstützt. Gemeinsam mit zwei Prager Kollegen aus dieser Zeit gründete er 2010 die auf Open-Source-Software spezialisierte Sourcefabric. Eines der „Babys“ von Sourcefabric war eine cloudbasierte Software, die es Autoren oder Redaktionsteams ermöglichen sollte, gemeinsam Bücher, Berichte oder Manuale zu erstellen. 2013 wurde sie unter dem Namen Booktype gelauncht. Als 2015 die Ausgründung der Booktype GmbH erfolgte, wurde Produktmanager Julian Sorge einer der zwei Geschäftsführer des kleinen Teams in der Berliner Prinzessinnenstraße. Auch Sorge ist Seiteneinsteiger; nach ersten Erfahrungen als Unternehmensberater für Neue Medien war der Philosoph lange für den Gestalten Verlag in Berlin tätig, zehn Minuten Fußweg von seinem heutigen Arbeitsplatz.
Mit Booktype zum Hybrid-Buch
Als Booktype vor gut fünf Jahren Gestalt annahm, erinnert sich Julian Sorge, war die browser-basierte Erstellung von E-Books noch „der heiße Scheiß“. Auch Booktype war zunächst als „sozialer Editor“ für digitale Bücher gedacht: Eine „Social-Writing-Plattform“, die es Redaktionsteams und externe Autoren erlaubt, zur gleichen Zeit gemeinsam an Publikationen zu arbeiten – von der Materialsammlung über das Korrektorat bis zur fertigen Buchdatei: alle Workflows in einer Software, kein Medienbruch, nirgends. Inzwischen hat sich der Fokus geweitet – das Zauberwort heißt „Single Source Publishing“: Fertige Publikationen können – aus einer Quelle und praktisch auf Knopfdruck – für Print, E-Reader, Tablets oder Webseiten ausgegeben werden; Bildschirm-PDFs bieten sich als Vorab-Leseproben für Buchhändler oder Verlagsvertreter an. Booktype ist also längst mehr als ein reines E-Book-Tool. Aktuell experimentieren die Berliner bereits mit Text-to-Speech-Anwendungen für automatisierte Audiobooks – interessant etwa für Menschen mit Sehbehinderung. Für Micz Flor wandelt sich unser Begriff vom Leitmedium der Gutenberg-Galaxis gerade zur umfassenden Metapher für „gebündelte Inhalte“. Hat man gerade auf dem Handy oder in gedruckter Form gelesen, seinem Sprachassistenten gelauscht? „Die Kanäle, auf denen ein Buch erlebbar wird, werden sich erweitern. Genau dort wollen wir mit Booktype andocken.“
Seine Feuertaufe erlebte Booktype zur Frankfurter Buchmesse 2016; beim contentSHIFT-Wettbewerb des Börsenvereins waren die Berliner unter den Finalisten. Dass sie im März 2017 bei Neuland 2.0, dem Startup-Village der Leipziger Buchmesse, mit ihrem eher B2B-orientierten Geschäftsmodell den Jurypreis gewannen, kam dennoch überraschend. „Die 3000 Euro Preisgeld haben wir natürlich gern mitgenommen“, lacht Micz Flor. „Noch wichtiger war für uns allerdings das tolle Feedback von Messe-Publikum und Kollegen. Egal, ob Schüler, Studenten, Selfpublisher, Autoren, Laien oder Profis, die Leute sind mit einer irren Selbstverständlichkeit auf uns zugekommen und haben uns vermutlich mehr Löcher in den Bauch gefragt als die contenSHIFT-Jury in Frankfurt.“ Mit dem Münchner Verlagsberater Markus Hartmann, dessen Startup XL Book im Neuland 2.0 einer der Standnachbarn von Booktype war, arbeitet man inzwischen partnerschaftlich zusammen. Und auch sonst hilft das innovative Startup-Village kräftig beim Netzwerken: „Mancher, der uns vor Leipzig einfach nur auf dem Zettel hatte, ist inzwischen direkt vorbeigekommen.“ Gut möglich, dass – eher früher als später – auch ein passender Partner dabei ist. „Im klassischen Startup-Maßstab sind wir schon sehr weit“, erklärt Julian Sorge, „wir haben zur richtigen Zeit das richtige Produkt am Markt und einen festen Kundenstamm. Allerdings erfordert jeder strategische Markteintritt Investitionen, die man nicht einfach aus der Kriegskasse generieren kann. Klar, wir werden keinen Venture-Kapitalisten mit Dollarzeichen in den Augen anlocken. Aber ein strategischer Partner aus der Branche, der unser Potenzial erkennt und über gute Netzwerke verfügt, käme uns sehr gelegen.“
Fortschritt – nur „eine neue Word-Version“?
Obwohl es sich bei Booktype um ein noch junges Produkt handelt, konnte die Firma mit Books on Demand und epubli bereits zwei große Dienstleister im Bereich Selfpublishing als Kunden gewinnen. So stellt BoD Autoren den Bucheditor von Booktype unter dem Brand easyEditor zur Verfügung. Seit 2016 wird die Booktype-Technologie auf der Plattform von epubli angeboten – auch dort können Autoren Manuskripte für E-Books selbst bearbeiten, gestalten und veröffentlichen. Mikrotext, 2013 von Nikola Richter in Berlin zunächst als reiner E-Book Verlag gegründet, inzwischen jedoch auch mit gedruckten Büchern am Markt, zeigt die Stärke von Booktype für kleinere Independents, die schnell und hybrid veröffentlichen: Bei erfolgreichen Titeln kann die Verlegerin nun per Mausklick ein Druck-PDF erzeugen, auch Korrektorat und Layout werden in Booktype abgewickelt. Der bislang „schönste Use-Case“ für Booktype hat, wie Julian Sorge augenzwinkernd erzählt, nur einen kleinen Schönheitsfehler: „Er findet nicht im klassischen Verlagsbereich statt.“ Seit 2015 wird der Jahresbericht von Amnesty International in Booktype erstellt: Ein internationales Team aus Übersetzern, Lektoren und Redakteuren arbeitet dabei kollaborativ im Browser und erstellt den 400 Seiten starken Bericht in neuen Sprachen, das Ganze innerhalb von zwei Monaten. „Letzte Änderungen sind selbst am Tag vor der Drucklegung möglich.“ Gemeinsames Arbeiten an Texten – ein Trend, der nicht zufällig aus der Softwareentwicklung kommt – ist auch unter Autoren auf dem Vormarsch; eine wachsende Anzahl von ihnen beteiligt die Community auf Facebook & Co. schon bei der Plot-Erstellung. Noch sind die Arbeitsabläufe vieler klassischer Verlage von der Arbeit mit Papier geprägt, auch wenn aus Manuskriptstapeln mittlerweile Dateien geworden sind. Die digitale Revolution ist in aller Munde, doch oft bleibt Fortschritt, um mit Kathrin Passig zu sprechen, nur „eine neue Word-Version“. Die Software-Tüftler von Booktype, mit dem Siegeszug des Internets in den 1990er Jahren sozialisiert und in Leipzig nun erstmals ins große Rampenlicht getreten, wollen dieses Denken aufbrechen. Frischer Wind, der der Branche guttut. Wenn Micz Flor gefragt wird, was er beruflich macht, antwortet er: „Ich verändere die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen und Wissen teilen.“ Um nicht weniger geht es.
Das war Neuland 2.0 2017: Während sich Booktype über den mit 3.000 Euro dotierten Jurypreis freuen kann, zeichneten die Medienforen Leipzig SciFlow mit einem Sonderpreis aus. Den Publikumspreis gewann Isle Audio.