Die Geschichte der alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerin, die für ihr unverlangt eingesandtes Roman-Manuskript 12 Absagen kassierte, bevor sich ein Verlag doch erbarmte und mit 500 Exemplaren startete, ist Legende: Die Frau heißt Joanne K. Rowling, ihr Buch „Harry Potter und der Stein der Weisen“ war in den Neunzigern der Auftakt zu einer der erfolgreichsten Fantasy-Serien aller Zeiten. Der Start unter erschwerten Bedingungen ist im Literaturbetrieb beileibe kein Einzelfall, Bestsellerautoren von John Grisham bis Sebastian Fitzek können ein Lied davon singen. Man fragt sich augenreibend, wie viele Milliarden an Verlagen vorbeirauschen, weil kommerzielle Potenziale einfach übersehen werden? Und was wäre, wenn ein Algorithmus die DNA hinter den Bestsellern entschlüsseln könnte, bevor sie verlegt werden?
Mit ihrem Startup QualiFiction haben Gesa Schöning und Ralf Winkler eine solche Software zur Vorhersage von Bucherfolgen entwickelt. Das ist kein Hexenwerk, wie Winkler erklärt: „Wir zerlegen ein Werk in seine Einzel-Disziplinen – von Themen und Spannungsverlauf bis zu elementaren statistischen Werten, etwa die Zahl der Wörter oder die mittlere Satzlänge. Damit füttern wir dann unsere Computer und berechnen eine Bestseller-Prognose für das Werk.“ Die Trefferquote liegt inzwischen bei beachtlichen 77 Prozent. Das macht die Software von QualiFiction für Verlage interessant, die in der Flut unverlangt eingereichter Manuskripte ertrinken – und ein analytischeres Verhältnis für ihre Texte entwickeln wollen. Im Land der Dichter, Denker und Original-Genies kommt da natürlich sofort Skepsis aus: Wo, wenn nicht in der Belletristik-Produktion ist programmierbare Kreativität gefragt? Arbeitet man mit einem „Bestseller-Code“ nicht an der Entzauberung der Literatur? Ralf Winkler lacht – und verweist aufs Feld der Musik: „Keiner würde sagen, dass die Musik langweilig und berechenbar ist, nur weil wir wissen, dass ein Dur-Akkord aus bestimmten Frequenz-Verhältnissen besteht.“
Zusammengetroffen sind Gesa Schöning und Ralf Winkler über eine Ausschreibung auf der Gründer-Plattform founderio.com. Schöning, die aus einer Lübecker Buchhändlerfamilie stammt, war nach einem Studium der Kulturwissenschaft in den Bereichen Medizintechnik/Konsumgüterindustrie in der Gründerszene aktiv; der promovierte Mathematiker Winkler hatte zuletzt für Zalando an Data-Science-Methoden gearbeitet: „Es hat mich gereizt, aus Daten Erkenntnisse zu entwickeln, die einem helfen, Dinge zu entscheiden – besser, als aus dem Bauch heraus. Nun können wir das Ganze mit einem tollen Produkt verbinden.“ Für die Weiterentwicklung ihrer Software erhielten sie das Exist-Gründerstipendium des Bundeswirtschaftsministeriums, seit letztem Mai profitieren sie vom InnoRampUp, einer Förderung der IFB Hamburg für technologiebasierte Startups in der Hansestadt.
Zielgruppen-Erweiterung dank Neuland 2.0
Die Nominierung für Neuland 2.0, der Innovation-Area der Leipziger Buchmesse, war für die Hamburger Gründer so etwas wie ein Hauptgewinn – und das gleich auf mehreren Ebenen. Zielte ihr Angebot bislang hauptsächlich auf Verlage, führten die Erfahrungen von Leipzig dazu, die Ausrichtung noch einmal zu modifizieren – und auch Autoren als Zielgruppe stärker in den Blick zu nehmen. „Viele Autoren, die über standardisierte Verlags-Absagen frustriert sind, würden ein objektives Feedback schätzen“, ist Schöning nach vielen Messe-Gesprächen überzeugt. „Der Platz im Neuland 2.0 war nicht zuletzt deshalb toll, weil wir unser Angebot punktgenau adressieren konnten.“ Aktuell haben die Hamburger deshalb ihre Marketing-Aktivitäten verstärkt und einen noch bis Ende September laufenden Wettbewerb ausgeschrieben, in dem nach dem Roman-Bestsellerautor 2.0 gesucht wird – dem Text mit dem höchsten Bestseller-Score winkt ein Verlagsvertrag beim Hamburger Feuerwerke Verlag. Das i-Tüpfel in Leipzig war für Schöning und Winkler der Gewinn des mit 3000 Euro dotierten Business-Preises, der für deutlich verstärktes Medien-Echo sorgte – intensive Gespräche mit möglichen Verlagskunden inklusive. Auf der Leipziger Buchmesse 2019 wird Qualifiction das Preisgeld in einen eigenen Stand investieren und freut sich auf weitere spannende Kontakte mit Verlegern, Autoren und Besuchern.
Momentan stemmen die Hamburger Gründer die Entwicklung ihres Startups aus Bordmitteln. „Um noch mehr Drive zu entwickeln“, sagt Gesa Schöning, „werden wir zukünftig auch mit potenziellen Investoren Gespräche führen.“ Kurz vorm Launch der Produkte LISA (Literatur-Screening & Analytik) und Bestseller-DNA haben sich die beiden geschäftsführenden Gesellschafter von QualiFiction noch einmal personell verstärkt: Neben Algorithmen-Fuchs Ralf Winkler, der die „Produktorchestrierung“ verantwortet, und Gesa Schöning, die käufmännische Aspekte und Marketingfragen fest im Blick hat, ist Carsten Evers (Bildmitte) an Bord gekommen – er betreut nun die technische Infrastruktur. In gerade einmal anderthalb Jahren hat QualiFiction gezeigt, dass in kommerziellen Erfolgsromanen mehr steckt, als naserümpfende Kritiker meinen. Die Arbeit des Startups hat das Zeug dazu, die Arbeit von Verlagen und Autoren nachhaltig zu verändern.
Fotos: Nils Kahlefendt