Auf Tuchfühlung: Junge Literatur war schon lange nicht mehr so spannend und divers wie heute. Die Autorinnen und Autoren, die in diesen Tagen mit ihren ersten oder zweiten Büchern um die Gunst des Publikums konkurrieren, schreiben zumeist auf hohem handwerklichen Niveau, ihre Themen finden sie längst nicht mehr nur im Nahkosmos der Familie oder in der eigenen Biografie. Wer sich in der kaum noch zu überblickenden Fülle der Namen und Schreibstile einen kompetenten Überblick verschaffen, der jungen Literatur den Puls fühlen möchte, ist in Leipzig bestens aufgehoben. Seit vielen Jahren hat sich L.Drei, die Lange Leipziger Lesenacht in der Moritzbastei, zur festen Größe des Bücher-Frühlings gemausert. In diesem Jahr sind die Bühnen zwischen Schwalbennest und Ratstonne vor allem von Kameras und Technik umlagert: Die Lesungen von 30 jungen Autorinnen und Autoren, unter ihnen so bekannte Namen wie Shida Bazyar, Raphaela Edelbauer oder der DLL-Absolvent Matthias Jügler, werden an zwei Abenden nonstop ins Netz gestreamt. Im „Leipzig liest“-Podcast der Buchmesse lassen sich die Höhepunkte auch dieser Auftritte nachhören – im 14-Tage-Turnus, bis zur Leipziger Buchmesse 2022. Dann werden wir auch mit dem tollen Dichter-Nachwuchs wieder auf Tuchfühlung gehen können – ganz in echt.
Neue Freiheit: Kopfnicken, Ellenbogen-Gruß, ab und zu tatsächlich eine Umarmung – die Wiedersehensfreude ist mit Händen zu greifen. Buchmessedirektor Oliver Zille weiß, dass die Leipzig-liest-extra-Ausgabe in einem Mix aus Live und Stream die richtige Entscheidung war, „eine Brücke, um unter pandemischen Bedingungen das Menschenmögliche tun zu können“. Für die Leserinnen und Leser eine neue, überraschende Form von Freiheit: Kaum wurde für den Leipzig-liest-Abend mit Christoph Hein in der Kongresshalle am Zoo ein begrenztes Publikum zugelassen, waren die Karten bereits wieder ausverkauft. Die Sehnsucht der Menschen, Literatur endlich auch wieder live und vor Ort erleben zu können, scheint grenzenlos. Messedirektor Oliver Zille ist sichtlich bewegt, als er in der locker bestuhlten Kongresshalle auf die Bühne tritt, um Hein anzukündigen. Auch viele der frisch getesteten Gäste können ihr Glück kaum fassen, als sie sich nach der Lesung in eine lange Schlange einreihen, um sich Heins neuen Roman „Guldenberg“ signieren zu lassen. Im Gespräch erinnerte der Autor auch an seinen ersten Messebesuch vor 60 Jahren – zweifellos ein Höhepunkt dieses denkwürdigen, sehr speziellen Lesefests.
Wir machen das hier wirklich: Wer eine Open-Air-Lesung mit fast 30 Beteiligten bei historisch schlechtem Wetter, während einer Pandemie und laufenden Sanierungsarbeiten veranstaltet, braucht „gute Nerven und Unterstützung.“ So begrüßt Jörn Dege, Geschäftsführer am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL), am ersten Abend von „Leipzig liest extra“ die knapp 130 Gäste im Garten der Wächterstraßen-Villa. „Wir machen das hier wirklich“, staunt Dege – was nicht zuletzt an der Unterstützung durch Neustart Kultur und den Sächsischen Literaturrat liegt. Bei so viel Goodwill hat auch der Himmel ein Einsehen: Es bleibt trocken, vereinzelte Sonnenstrahlen werden gesichtet.
Wer Ende der Neunziger, Anfang der Nullerjahre der Meinung war, dass die Literatur, die in Leipzig und Hildesheim, den damals noch einzigen akademischen Schreibschulen der Republik, entstand, zwar handwerklich perfekt und sprachlich ausgefeilt gewesen sei, aber leider nichts zu erzählen habe, brachte das gern auf die Formel „Institutsprosa“. Das Schmähetikett ist inzwischen zu einer positiv besetzten Trademark geworden: „Institutsprosa“ nennt sich eine von Dege organisierte Veranstaltung, die seit einigen Jahren zur Leipziger Buchmesse regelmäßig für rappelvolle Räume am DLL sorgt. 2020 musste die Veranstaltung aus bekannten Gründen abgesagt werden. Nun findet sie unter besonderen Umständen statt: Ende Mai statt Mitte März, an zwei Abenden statt einem, draußen im Garten statt drinnen im Saal – und mit insgesamt 18 Lesenden. Schon deren Defilee unterm niedrigen Schirm des Lese-Zelts (die AHA-Regeln werden um ein „Gebückt zum Lesetisch!“ ergänzt), gleicht einem Who’s Who der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur samt angeschlossener Verlagswelt.
Als das DLL nach Abwicklung des Becher-Instituts Mitte der 90er neu gegründet wurde, kam dessen heutiger Geschäftsführer gerade in die 6. Klasse des Hohenzollerngymnasiums im schwäbischen Sigmaringen. Josef Haslinger, der scheidende Direktor des Instituts, war die ganze Zeit da. In diesen Tagen räumt er sein Büro, das Ende einer Ära. Den Abend im Garten, im Kreis seiner Studentinnen und Studenten, die sich die realen Bühnen nun wieder erobern werden, genießt er still.
Stell’ dir vor, es ist Buchmesse: In Minsk halten sie Victor Martinowitschs eben auf Deutsch erschienenen Roman „Revolution“ (Voland & Quist) bei Demonstrationen wie ein Transparent hoch. Aber wie geht es dem Autor? Eigentlich sollte er jetzt mit seinem inzwischen in der Schweiz lebenden Kollegen Sasha Filipenko auf der Bühne im Garten des Leipziger Literaturhauses sitzen. Doch die Umstände erlauben es nicht; beide sind per Video-Chat zugeschaltet, Filipenko aus der Schweiz, Martinowitsch aus Minsk. Eine der Fragen, die er dieser Tage am häufigsten beantworten muss: Wann gehst du? „Ich habe beschlossen zu bleiben“, sagt der mutige Autor. „Natürlich fühlt sich keiner sicher, liegt Angst in der Luft. Aber man kann nicht vor der eigenen Angst fliehen.“ Das Podium ist Teil des seit 2019 mit der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Programms „The Years of Change“. Diesmal wendet sich der Blick zwei Staatsgebilden zu, die auf aktuellen Karten nicht mehr zu finden sind: Der Sowjetunion und Jugoslawien.
Überhaupt hat das Literaturhaus für die Woche Ende Mai geplant, als sei Buchmesse – und dabei auf seinen womöglich schönsten Raum, den Garten, gesetzt. Im Vorfeld wurden Zelte, Decken und Kissen angeschafft – doch als am Mittwoch Judith Hermann und Gregor Sander starten, setzt es einen dreistündigen Wolkenbruch. „Das ist kein Regen mehr, das ist ein Terroranschlag“, sagt Literaturhaus-Chef Thorsten Ahrend, der als Mecklenburger einiges abkann. Der Regen trommelt ohrenbetäubend aufs Zeltdach, das schon bald bedrohlich durchhängt, Publikum und Autoren pushen sich gegenseitig. Für fast jeden, der hier auf die Bühne geht, ist es eine Buchpremiere nach sehr langer Zeit. Der Judith-Hermann-Abend ist „die verrückteste Lesung meines Lebens“ gewesen, findet Ahrend. Alles in allem sind in vier Tagen 40 Autorinnen und Autoren zu Gast, darunter eine prominente Abordnung aus Portugal und Sandra Gugić, Shpëtim Selmani und Tijan Sila für das Südosteuropa-Programm „Common Ground“.
Verlegen heißt vorlegen: Das Café der Galerie für Zeitgenössische Kunst (GfZK) firmiert seit dem Marx-Jubiläum 2018 als „Das Kapital“. Ein Wohnzimmer, eine Bühne mit Requisiten und Design-Zitaten – darunter ein durchhängendes Banner in Klassenkampf-Bildsprache, „Clube dos depressivos“ heißt es da auf Portugiesisch, „Club der Depressiven“. Der Verlag Klett-Cotta, der im GfZK-Café regelmäßig die verrücktesten Leipziger Messe-Partys gefeiert hat, gehört dieser Vereinigung auch in pandemischen Zeiten nicht an. Im Gegenteil: Tom Kraushaar, verlegerischer Geschäftsführer des Hauses, hat „Das Kapital“ für einen Abend gemietet. „Wir wollen unseren Autorinnen und Autoren, die in den letzten Monaten oft als Einzelkämpfer unterwegs waren, wenigstens für ein paar Stunden eine Art Homebase bieten, Freunde und Kollegen treffen, all das. Natürlich draußen, regelgerecht und getestet.“ Eben nehmen Meike Stoverock („Female Choice“), deren Lesung im Ost-Passage Theater aufgezeichnet wird, und Raphaela Edelbauer („DAVE“), die ins ARD-Forum muss, noch einen Drink aufs Haus. Verlegen heißt vorlegen.
Der Weg nach Oobliadooh: Die Messehallen bleiben leer, rund 400 Lesungen finden online statt. Dank der gesunkenen Inzidenzen sind jedoch Freiluftveranstaltungen urplötzlich wieder möglich – in Gärten, auf Bühnen in Parks und Hinterhöfen. Ansgar Weber von der Buchhandlung Seitenblick lädt zum Spaziergang ein: Unter dem Motto „Zwischen Priesse und Bebop“ erwandern mehr als 30 Neugierige den Leutzsch-Lindenauer Mikrokosmos des großen Schriftstellers Fritz Rudolf Fries (1935-2014). Es geht um spanisch-deutsche Familienbande, Zwangsarbeiter, verschwundene Ballsäle und Jazz, weshalb wir neben der Schauspielerin Verena Noll auch vom Saxofonisten Torsten Walther begleitet werden, der an einer zugigen Hausecke plötzlich die Marseillaise ins Horn bläst.
Sehnsucht nach den Hallen: Im Biergarten von Ilses Erika präsentiert sich „Katapult“-Verleger Benjamin Fredrich beinahe handzahm: Der Mann, der für seine heftigen Auseinandersetzungen mit Häusern wie Cornelsen oder HoCa bekannt wurde, flicht Leipzig („Die Stadt, die nach Greifswald die meisten Katapult-Abos hat“) und seinem neuen Co-Verleger Sebastian Wolter, auch ein Leipziger, regelrechte Kränze. Und liest aus seinem Roman „Die Redaktion“ eine Stelle, die tatsächlich auf der Leipziger Buchmesse spielt. In einer Zeit, da man dort echte Menschen traf, und es in den Hallen zog wie Otter? Oder Lachs? Oder doch eher wie Hechtsuppe?
Ministerium der Träume: Dank Leipzig liest extra bekommt man endlich mit, dass die Buchhandlung Rotorbooks in der Kolonnadenstraße einen super Garten hat: Plattenbauten, ein Wäscheplatz, spielende Kinder, Bier und Saft gegen Spende – in dieser Idylle liest die Kette rauchend ihre Aufgeregtheit überspielende Hengameh Yaghoobifarah aus ihrem Romandebüt „Ministerium der Träume“ (Blumenbar). Zwar sind Film- und Bühnenrechte längst verkauft – doch was hilft das gegens Lampenfieber des ersten Live-Auftritts?
Nie wieder Sperrstunde: Im Ballsaal der Schaubühne Lindenfels sprechen der Tscheche Jaroslav Rudiš und der aus Wien zugeschaltete Österreicher Nicolas Mahler mit Andreas Platthaus über ihre grandiose Graphic Novel „Nachtgestalten“ (Luchterhand). Trösteten sie sich womöglich mit gezeichneten Kneipen-Szenen über coronabedingt zugesperrte Gasthäuser? Bei Schaubühnen-Impressario René Reinhardt werden die digital-analogen Lesungen der Reihe „Echo Tschechien“ noch nachhallen, wenn der Eisenbahnersohn Rudiš längst wieder die Bahnstrecken zwischen Dresden und Prag unsicher macht. „Erinnern Sie sich noch, wie es ist, in einem Saal dicht an dicht mit 200 erwartungsfrohen Zuschauen zu sitzen?“ Auch das wird wiederkommen.
Sechs Richtige: Miriam Zedelius, 1977 in Heidelberg geboren, heute mit ihrem Mann und drei Kindern in Leipzig lebend, traut sich was. Nach ihrem Grafikdesign- und Illustrations-Studium in Leipzig, Halle und dem spanischen Granada gründete sie 2007 die Ateliergemeinschaft „Mischkomplott“ in den Räumen einer alten Tischlerei. Dort schreibt und zeichnet sie, entwirft Plakate und Buchcover, unter anderem für den Poetenladen. Unter dem Titel „Lotte und die Freitags-Oma“ (Hummelburg) erschienen Anfang des Jahres 18 neue Vorlesegeschichten für kleine Menschen ab vier, die Zedelius selbst zweifarbig illustriert hat. Genau der richtige Stoff in Pandemie-Zeiten. Und nun? Für Leipzig liest extra hat Miriam Zedelius nicht nur schnöde vorgelesen, sondern ihr Buch auf die Open-Air-Bühne der Feinkost gebracht – genau vis-á-vis der wunderbaren Kinderbuchhandlung Serifee! Und was liegt näher, als eine LOTTErie mit coolen Gewinnen ganz in echt, wenn die Heldin des Buchs schon Lotte heißt? Da schnappt sich so manche Freitags-Oma die Enkel und wird, zack! zur Sonntagmorgen-Oma.
Wörtertausch: Eigentlich sollten Tanja Esch („Wahrheit oder Quatsch?“) und Anke Kuhl („Manno!“) live auftreten, der Messestand war gebucht – und eine Kinderbuchstabensuppe am Messeeröffnungstag wäre wohl auch drin gewesen. Doch dann – die pandemiebedingte Messe-Absage. Was tun? „Wir wollten etwas machen, was auf jeden Fall möglich ist – egal, wie hoch die Inzidenzzahlen nun gerade sind“, erklärt Verlegerin Monika Osberghaus. „Am Ende aller Überlegungen blieb der Zaun, der den Messestand ersetzt.“
Klett Kinderbuch lädt also zu einer kleinen, feinen Zaunmesse „to go“ ein – eigentlich für Donnerstag und Freitag, doch das leicht sibirische Wetter am Donnerstag machte einen Strich durch die Rechnung. Am Freitag allerdings zeigen sich pünktlich 14 Uhr erste, vorsichtige Sonnenstrahlen. Am Zaun der gelben Villa in der Leipziger Südvorstadt gibt es eine improvisierte Ausstellung mit Bildern und Büchern aus dem aktuellen Programm, dazu nette Zaun-Gespräche. „Darum geht’s uns ja“, sagt Osberghaus, „wir wollen unsere Leserinnen und Leser, die Kinder, endlich mal wiedersehen – so wie sonst am Messestand“. Und noch etwas hat sich der Verlag für seine kleinen Fans ausgedacht: Alle Kinder sind eingeladen, Wörter gegen Wörter zu tauschen. Alles, was man tun muss: Sein Lieblingswort – egal, ob ausgedacht oder wirklich gern benutzt – auf ein A-4-Blatt schreiben und an den Wörterzaun pinnen. Im Gegenzug gab’s wortreiche Überraschungstüten für alle. Gibt es Kinder, deren Lieblingswort „Naturwissenschaft“ oder „Gesundheit“ ist? Den schlauen Professor Drosten würde das freuen. Die Verlegerin hält es – wir haben so etwas schon vermutet – eher mit Wort-Findungen wie „Großbrand“ oder „Schlabberpumpe“.
Verdiente Bühne: Beifall brandet auf in der Parkbühne im Clara-Zetkin-Park, als Sebastian Fitzek mit seinem neuen Buch „Der erste letzte Tag“ an die Rampe tritt. Hört sich gut an – für den eigentlich Beifallsstürme gewohnten Bestseller-Autor wie fürs Publikum, das – sorgsam in familiäre Kleingruppen separiert – sein Glück kaum fassen kann. Auch die Fitzek-Lesung ist blitzschnell ausverkauft, bei Checker Tobi und Sarah Wagenknecht bleiben nur wenige Stühle frei. Die Literatur hat endlich wieder ihre verdiente Bühne bekommen, freut sich Oliver Zille: „Leipzig wird immer von einer besonderen Stimmung getragen. Aber in diesem Jahr sind die Autoren und Autorinnen wie Besucher und Besucherinnen vor Euphorie über ein Wiedersehen geradezu über die Veranstaltungsorte geschwebt.“ Wir sehen uns wieder, schon bald. Versprochen.