Autor: Nils Kahlefendt

Konkurrenzlos an der Karli: Torsten Hinger, Programmchef der naTo, vor seinem Klub (c) nk

„Mutter aller Kulturkneipen“ 
17. Februar 2025
Für seine ausgefallenen Locations ist „Leipzig liest“ berühmt. Hier stellen wir in loser Folge einige der spannendsten vor. Heute: Torsten Hinger und das soziokulturelle Zentrum "die naTo" in der Südvorstadt
Autor: Nils Kahlefendt

Konkurrenzlos an der Karli: Torsten Hinger, Programmchef der naTo, vor seinem Klub (c) nk

„Mutter aller Kulturkneipen“ 
17. Februar 2025
Für seine ausgefallenen Locations ist „Leipzig liest“ berühmt. Hier stellen wir in loser Folge einige der spannendsten vor. Heute: Torsten Hinger und das soziokulturelle Zentrum "die naTo" in der Südvorstadt

Fragt man naTo-Programmchef Torsten Hinger, wie die Geschichte mit ihm und ‚seinem’ Haus begann, kommt man ziemlich schnell aufs Theater: Als Hinger 1982 eine Wohnung in der Dufourstraße im Leipziger Süden besetzt hatte (auch das gab es in der DDR!), fiel ihm recht bald das Kulturhaus „Nationale Front“ Ecke Karl-Liebknecht/Körnerstraße auf, offensichtlich ein Hotspot der Subkultur. Die Theatertruppe, die Hinger mit seinen Freunden gründete (für eine Band reichten die musikalischen Fähigkeiten nicht), fand hier ein Domizil zum Proben und für gelegentliche Auftritte, und da das Kind irgendwie heißen musste, nannte man sich „Fronttheater“ – und erspielte sich am Jugendklubhaus „Walter Barth“ in Paunsdorf (heute: Villa Breiting) eine „Einstufung“, vulgo „Pappe“. In rascher Folge kamen Stücke heraus, Dramatisierungen von Salingers „Fänger im Roggen“ oder Raymond Queneaus „Stilübungen“ – für Furore sorgte 1987 eine Bearbeitung von Peter Turrinis „Rattenjagd“, immerhin eine DDR-Uraufführung. Im Oktober 1989 fragte Götz Lehmann, laut Stellenplan Hausmeister des Klubs, tatsächlich aber Impressario zahlreicher subkultureller Aktivitäten – von Filmabenden mit Lutz Dammbeck bis zu schrägem Jazz – ob Hinger nicht mittun wolle. „Ein halbes Jahr später war ich Geschäftsführer.“ Torsten Hinger stürzte sich kopfüber in die Programmarbeit. „Man konnte hier viel bewegen. Die Leute waren hungrig nach Pop-Kultur, egal, ob Musik, Film oder Theater. Es gab einen riesigen Nachholbedarf.“ Bis auf ein paar Semester Studium und ein Intermezzo in einer Werbeagentur blieb Hinger der naTo treu. Bis heute. 

Literatur satt gibt es in der naTo vor allem zur Buchmesse und, wie hier, beim Literarischen Herbst. (c) nk

Die Geschichte dieses Ausnahme-Klubs handelt vom mutigen Ausloten kultureller Freiräume – und sie beginnt 1982 mit einer heute fast wundersam anmutenden freundlichen Übernahme. Bis dahin hat der Geist der Ulbricht-Ära noch immer wie Mehltau über dem Saal des Kulturhauses „Nationale Front“ in der Leipziger Südvorstadt gelegen: Tanzstunden, Seniorennachmittage und Schachklub; einmal pro Woche hält der ABV, eine Art Stadtteilpolizist, seine Sprechstunde ab. Auch Reisepässe und Devisen werden im schummrigen Ambiente an westreisende Rentner ausgereicht, ein absurdes Ritual. Und nun? Fast über Nacht avanciert das Haus, von der Stasi misstrauisch beäugt, mit Lesungen, nächtlichem Jazz und genreübergreifenden Happenings zum Ort der Alternativkultur. Neben der offiziellen Bezeichnung kursiert in der Szene bald der Spitzname naTo. Ein Wortwitz, der sich nicht auf Anhieb erschließt – vermuten wir ein kleines Stück Anarchie in einem Land, das Mitglied im Warschauer Pakt ist. Die naTo wird zum Forum für junge Experimentalkünstler, Theaterprojekte, Dichter mit Auftrittsverbot, die Jazz-, Rock- und Punkszene. Irrwitzig das Titanicfest, das am 30. Juni 1990 das monetäre Ende der DDR besiegelt. Der alte Schriftzug „Nationale Front“ ist von der Fassade verschwunden. Doch noch immer beweist die naTo, dass die Grenzen zwischen Musik und Theater, Profis und Amateuren, Avantgarde und Volksfest fließend sein können. 

 

Eine Sternstunde in der naTo-Geschichte war das Titanicfest in der Nacht der D-Mark-Einführung. Erkennen sie den Autor unseres Textes? (c) naTo

Literatur hatte auch in der naTo eine Anlaufstelle – auch wenn zu DDR-Zeiten auf diesem Gebiet eher der Jugendklub „Arthur Hoffmann“ (heute: Haus Steinstraße) unter seiner Chefin Brigitte Schreier-Endler glänzte: Von 1979 bis 1989, den Jahren, in denen die Frau des Schriftstellers Adolf Endler den Klub leitete, fanden dort über 70 Lesungen statt – von Heiner Müller über die Literaturszene des Prenzlauer Bergs bis zu Leipziger Nachwuchsautorinnen und -autoren. Die naTo hat von der (nicht nur räumlichen) Nähe profitiert – und präsentiert bis auf den heutigen Tag auch Literaturveranstaltungen – die geballte Ladung gibt es zur Leipziger Buchmesse im März und zum Literarischen Herbst im Oktober. Zu „Leipzig liest“ liegt der Schwerpunkt auf internationaler Literatur – ein Highlight ist seit gut zehn Jahren die „Nordische Lesenacht“, die in Zusammenarbeit mit den Botschaften und Kulturinstitutionen der nordischen Länder organisiert wird. Als die rund 100 Gäste fassende naTo nach mehreren Jahren aus allen Nähten brach, zog man in die Kulturfabrik Werk 2 um. 

Lesungen haben einen festen Platz im naTo-Programm, Technik und Licht genügen höchsten Ansprüchen. Hier Joachim Hentschel („Dann sind wir Helden“) im Gespräch mit Marion Brasch (c) Gert Mothes

Über die Jahre hat die naTo nachhaltig in Technik, vor allem aber in den Bereichen Gastro und Barrierefreiheit investiert. Behindertengerechte Toiletten und eine Hebebühne für Rolli-Fahrer wurden eingebaut; seit vielen Jahren arbeitet die naTo mit dem Inklusionstheater Ensemble 23 zusammen. Ab Mai wird nun wieder gebaut: Das Haus bekommt endlich eine akustische Trennung zum Nachbargebäude, die Elektrik und Be- und Entlüftung werden erneuert. Der Umbau-Etat beträgt etwas über eine Million und stammt aus sogenannten „PMO“-Mitteln, Geld aus Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR, das nach der Wiedervereinigung durch die Treuhandanstalt verwaltet wurde. Für Torsten Hinger eine schöne Pointe, dass SED-Kohle nun der Kulturarbeit von unten zu Gute kommt. Mit einem weinenden Auge blickt er auf den Umstand, dass der Veranstaltungsbetrieb wohl von Mai bis Dezember ruhen wird. Zur Buchmesse im März ist die „Mutter aller Kulturkneipen“ allerdings noch mal für eine literarische Weltreise gut: Wetten, dass das Licht in der naTo, wie damals in Wendezeiten, erst gegen Morgen ausgeht?

Der Band 30 Jahre naTo (Passage Verlag, Leipzig) bietet in persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und hunderten Fotos und Fundstücken eine beeindruckende Zeitreise durch die Geschichte dieses besonderen Kulturortes.

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