Als im März 1990, nur wenige Monate nach dem Mauerfall, in der Alten Börse die Leipziger Buchmesse – damals noch als Teil der Frühjahrsmesse – eröffnet wurde, hatte sich die deutsch-deutsche Bücherlandschaft, quasi über Nacht, radikal verwandelt. Westverlage drängten mit Macht auf den Ostmarkt, der planwirtschaftlich organisierte ostdeutsche Buchhandel wurde wie im Zeitraffer in die Marktwirtschaft gestoßen. Nicht wenige prognostizierten in dieser Situation das Aus für die zweite, kleinere deutsche Buchmesse. Hatte die Parole nicht jahrzehntelang „Go West!“ gelautet? Die erste eigenständige Leipziger Buchmesse nach der Wende, zu der im April 1991 nur rund 25.000 Besucher kamen, schien den Skeptikern Recht zu geben.
In diese Situation fällt die Geburtsstunde von „Leipzig liest“. Als Geburtshelfer, wenn nicht „Erfinder“ des Lesemarathons an der Pleiße gilt Theo Schäfer, umtriebiger Pressesprecher des Bertelsmann Clubs, später Unternehmenssprecher von Random House in München. Der in der Branche bestens vernetzte PR-Mann wollte das damals verbreitete Wort von den „blühenden Landschaften“ offenbar ernst nehmen. Mit organisatorischer Hilfe von Stadt und Messe ging das Prestige-Projekt des Clubs im Mai 1992 erstmals an den Start: 80 Autoren lasen in 160 Veranstaltung – von Bildermuseum und Auerbachs Keller bis zu heute schon legendenumwobenen Schauplätzen: in Peter Hinkes „Connewitzer“ etwa, damals noch als „letzte Buchhandlung vor dem Wahnsinn“ in der Messehofpassage firmierend, in den kanonenofenbefeuerten Werkstatträumen der Galerie Eigen+Art, im Café Maitre oder dem 1990 gegründeten ersten Bio-Laden der Noch-DDR. Das Unternehmen schlug ein: Die Buchmesse verzeichnete ein sattes Besucherplus von 46 Prozent; bei „Leipzig liest“ wurden 16.000 Besucher gezählt – an die 1000 Menschen strömten allein zu Günter Grass, der in Speck’s Hof aus seiner Erzählung „Unkenrufe“ las.
Was „Leipzig liest“ betraf, waren solche nicht nötig. Bereits im Herbst 1992 begannen die Planungen für den zweiten Jahrgang, der im Juni des Folgejahres über die Bühne gehen sollte. Der Bertelsmann Club wurde dabei von Messe, Kommune, Börsenverein und den teilnehmenden Verlagen unterstützt; das junge Lesefest war auf gutem Weg, zu einer echten Gemeinschaftsaktion zu werden. 1993 – inzwischen leuchtete das eigene Logo auf Flyern und Plakaten – standen 220 Veranstaltungen zu Buche. Eine Dimension, die für alle Beteiligten die Grenze des Machbaren darzustellen schien. Sie zeigte indes auch, das „Leipzig liest“ längst zu einem „Kommunikationsbedürfnis“ (Theo Schäfer) geworden war. Die fortan im Jahresrhythmus beteuerte Absicht, das Programm begrenzen, „gesundschrumpfen“, irgendwie kanalisieren zu wollen, wurde noch jedes Mal von den schieren Zahlen überrollt. „Leipzig liest“ schien zum Selbstläufer geworden zu sein. Doch noch war die Haltung vieler deutschsprachiger Verlage zur zweiten deutschen Buchmesse schwankend.
Der Umzug der Buchmesse vor die Tore der Stadt geriet 1998 auch zur Bewährungsprobe für „Leipzig liest“. Als das City-Biotop gegen die gläsernen Weiten der neuen Hallen eingetauscht werden sollte, mischten sich skeptische Stimmen in den Chor der Umzugs-Visionäre: Waren am Markt nicht Messetreiben und Alltagsleben, Buch und Stadt immer in eins gefallen? Was würde nun kommen? Das Literatur-Raumschiff auf der grünen Wiese? Leipzig hat bewiesen, dass man neue Wege beschreiten kann, ohne Bewährtes aufzugeben. Im siebten Jahr, das gemeinhin als verflixtes gilt, wuchs „Leipzig liest“ erneut, von 480 auf mehr als 700 Veranstaltungen, die nun zu fast gleichen Teilen auf dem Leipziger Messegelände und in der Stadt über die Bühne gingen. Am gedruckten Veranstaltungsprogramm jener Tage lässt sich das oft beschworene „Wunder von Leipzig“ greifbar machen: Das anfängliche Faltblatt war inzwischen zu einem veritablen 250-Seiten-Wälzer angeschwollen.
Die beinahe symbiotische Verbindung, die die Messe und ihr Lesefest seit den frühen Neunzigern eingegangen waren, schien noch enger geworden – doch immer wieder tauchten auch Fragezeichen hinter der Finanzierung von „Leipzig liest“ auf; die Branchenmisere der Jahre nach 9/11 hatte um die alte Buchstadt keinen Bogen gemacht. Im September 2003 verabschiedete die Messe GmbH mit ihren bisherigen Kooperationspartnern Bertelsmann Club, Stadt Leipzig, Börsenverein, MDR und dem neu hinzugekommenen Leipziger Kuratorium „Haus des Buches“ eine grundsätzliche Verpflichtung, welche die Zukunft von „Leipzig liest“ langfristig sicherte: Fortan sollte die Leipziger Messe die Organisation des Lesefests übernehmen, die konkreten Investitionen jedes Jahr neu abgesteckt werden. Der Weg für die Weiterentwicklung einer lebendigen, leserorientierten Buchmesse mit „Leipzig liest“ als Zugpferd war frei.
2019 feiern 286.000 Besucher in Leipzig das Wort in all seinen Facetten. Mit 2547 Ausstellern aus 46 Ländern erweist sich die Buchmesse einmal mehr als Impulsgeber für das Branchenjahr. Regelmäßig finden dazu auch Sonderveranstaltungen ihren Platz wie im Dreijahres-Rhythmus der Deutsche Bibliothekskongress. Bereits 1995 wurde die Antiquariatsmesse in die Leipziger Buchmesse integriert; zum ersten Mal fanden damit alte Bücher, Graphik und Autographen ihren Platz in einer Neubuchmesse. 2014 hatte – ebenfalls parallel zur Buchmesse – die Manga Comic Convention (MCC) Premiere, die im sechsten Jahr 104.000 begeisterte Besucher anzog.
Der Preis der Leipziger Buchmesse, seit 2005 mit Unterstützung des Freistaats Sachsen und der Stadt Leipzig vergeben, ist Leipzig liest auf den Leib geschneidert und sticht aus der üblichen Betriebs-Routine heraus. Die Messe verdankt der Verleihung in der Glashalle in schöner Regelmäßigkeit die schönsten Momente. Längst gehört der mit insgesamt 45.000 Euro dotierte Preis zu den richtungweisenden literarischen Auszeichnungen in Deutschland.
Gelesen, so die traditionell von Leipzig ausgehende Botschaft, wird immer. Ob elektronisch oder gedruckt, scheint manchem nur eine Frage der Darreichungsform. Nach der Buchmesse ist vor der Buchmesse: Eingeführte Themenschwerpunkte wollen qualitativ ausgebaut, neue entwickelt werden. Angesichts einer sich radikal verändernden Branche bleibt die Messe ihrer Strategie treu, den Markt nicht nur abzubilden, sondern vorausschauend in neue Themenfelder zu investieren. Auf diese Weise bleibt sie für ihre Kunden unverzichtbar – auch wenn mit der Digitalisierung neue Geschäftsmodelle entstehen, mit Autoren und Selfpublishern neue Zielgruppen relevant werden oder sich das Lese- und Kaufverhalten der Menschen ändert.