Laurynas Katkus ist in einem Plattenbauviertel in Vilnius aufgewachsen, ein Viertel, wie man es zwischen Leipzig-Grünau und Wladiwostok vermutlich unzählige Male wiederfinden könnte. Die mehrspurige Kalvarienstraße, die vom Stadtzentrum schnurgerade bergan führt, trug zu Sowjetzeiten den Namen Felix Dserschinskis, des nahe Wilna aufgewachsenen ersten Chefs der Tscheka. Heute sieht man hier wieder Prozessionen; auf dem Kalvarien-Markt werden geschmuggelte Zigaretten feilgeboten. In Katkus’ Familie – der Vater ist Bratschist in einem Streichquartett, die Mutter Englisch-Dozentin an der Uni – spielten Bücher, noch mehr die Musik, eine wichtige Rolle. Ein waschechter Intelligenzija-Haushalt in der von Arbeitern und kleinen Angestellten bewohnten Betonwüste von Šnipiškės. Nicht ganz unbekannte Dichter saßen regelmäßig um den Küchentisch, Katkus’ Vater lud Kollegen und Studenten zu Wohnzimmer-Konzerten ein, auch wenn der Platz für mehr als ein Cello knapp wurde. Musik und Diskussionen; Laurynas lauschte mit großen Ohren.
Punk und Perestroika
Mitte der 80er wurde Bach dann durch The Stranglers, Tears for Fears und The Cure verdrängt, „die heilige Dreieinigkeit unserer Clique“, wie sich Katkus erinnert. Westlicher Punk und Postpunk als Soundtrack gegen das realsozialistische Grau-in-Grau. Wenn sich in den späten Achtzigern, der Zeit von Perestroika und der erstarkenden Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis, litauische Punks mit russischen Poppern prügelten, war schon zu ahnen, dass der soziale Schmelztiegel, bislang von den Machthabern auf kleiner Flamme gehaltent, auch in Vilnius am überkochen war. „In diesen Jahren habe ich viel gelesen. Und irgendwann begonnen, zu schreiben.“ 1990, im Jahr der litauischen Unabhängigkeitserklärung, schreibt sich Laurynas Katkus an der Universität Vilnius ein; er studiert Litauische Philologie und Komparatistik. Die ganze Welt, so scheint es, steht ihm nun offen.
LE on My Mind
1995 kommt Katkus, mit einem Erasmus-Stipendium, zum ersten Mal nach Leipzig. „Eine schöne, wilde und sehr fruchtbare Zeit“, sagt er heute. „Meine Ost-DNA hat es mir ermöglicht, an die Mentalität und die Geschichte der Leute hier anzuknüpfen, wir haben schnell eine gemeinsame Sprache gefunden. Damals glaubte ich, dass die Erfahrung des Totalitarismus einen fürs ganze Leben prägt, dass man einander nur wirklich versteht, wenn man diese Erfahrung teilt.“ Inzwischen ist er sich dessen nicht mehr so sicher. Während die postkommunistischen Umwälzungen in seiner Heimat damals nur im Schneckentempo vorrankommen, wird der Erasmus-Student in Leipzig jedoch auch mit der Wucht der Erneuerung konfrontiert. Das Leben im Transit zwischen Gestern und Morgen sensibilisiert ihn für Zwischentöne. Katkus genießt Leipzig in vollen Zügen: Lesungen, Nächte in halblegalen Clubs, Parties in maroden Hinterhöfen mit Grunge-Musik aus geöffneten Garagentoren, das Weihnachtsoratorium in der Nikolaikirche. „Diese Stadt ist zur richtigen Zeit in meine Leben getreten und hat mich verändert“, wird er sehr viel später in einem Erinnerungs-Text („LE on My Mind“) gestehen.
Transporteur der Literatur
Als Litauen vor 15 Jahren Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, erscheint der erste Gedichtband von Katkus („Tauchstunden“) in deutscher Übersetzung in Viktor Kalinkes Leipziger Edition Erata (heute: Leipziger Literaturverlag). „Damals ging eine Tür auf; wir wurden nun öfter zu Lesungen oder Festivals eingeladen, bekamen Aufenthalts-Stipendien.“ Auch Katkus ist seitdem mehrfach für längere Zeit in Deutschland, etwa als Stipendiat der Akademie Schloß Solitude (Stuttgart) oder der Akademie der Künste (Berlin). Die Kontakte sind intensiv, denn der junge Litauer erarbeitet sich auch einen Ruf als Übersetzer. Hölderlins „Hyperion“ hat er ebenso ins Litauische gebracht wie Bücher von Walter Benjamin, Ernst Jünger, Susan Sonntag, Octavio Paz oder Jan Wagner. Der Transfer von Gegenwartslyrik liegt ihm besonders am Herzen: „Bei der Poesie bin ich völlig frei, hier kann ich nach rein ästhetischen Kriterien entscheiden. Die Marktgängigkeit eines Titels spielt keine Rolle.“ Es gibt staatliche Förderungen für Übersetzungen, der litauische Schriftstellerverband publiziert viele Gedichtbände sogar in einem eigenen Verlag; Festivals wie der „Poesiefrühling“ oder der „Poesieherbst“ in Vilnius laden regelmäßig internationale Autoren ein. „Die dazu erarbeiteten Anthologien sind eine wahre Fundgrube für zeitgenössische Lyrik“, schwärmt Katkus. Eine seiner bislang härtesten Nüsse: Die Übertragung von Gedichten Lutz Seilers ins Litauische. Katkus lächelt: „Wenn es schwierig ist, ist es auch schön.“
„Man jongliert mit vielen Bällen“
Meist folgt darauf fast zwangsläufig die Frage: Kann man davon leben? Auch für den Freiberufler Laurynas Katkus ist sie nicht neu: „Ich schreibe meine eigenen Bücher, übersetze, mache Projekte im Bildungsbereich. Manchmal gibt es ein Künstler-Stipendium. Es funktioniert – aber man jongliert mit sehr vielen Bällen.“ Innerhalb der letzten fünf Jahre sind die Startauflagen in Litauen um zirka ein Drittel gesungen; Independents wie Kitos Knygos („Andere Bücher“), Katkus’ belletristischer Stammverlag, haben einen schweren Stand gegen Konzerne wie Alma Littera, die zugleich über eigene Buchhandlungsketten verfügen. Eine Preisbindung existiert nicht. Katkus’ eigene Lieblingsbuchhandlung Eureka! befindet sich im Zentrum von Vilnius, nahe der Uni. „Dort gibt es neben neuen Büchern auch ein Modernes Antiquariat mit Titeln aus der SU-Zeit oder den 90er Jahren, man kann wunderbar stöbern.“
Aus dem „Kabuff“ nach Leipzig
Mit Frau und Kindern wohnt Katkus in einem Mehrfamilienhaus im Stadtteil Antakainis, am linken Ufer der Neris. Zum Schreiben zieht er sich in die Unterwelt zurück: Sein „Kabuff“ ist ein nur wenige Quadratmeter großer, fensterloser Kellerraum, eine Mönchszelle ohne Internet-Anschluss. Das neben dem Computer wichtigste Gerät im Raum ist der kleine Elektroheizer unterm Schreibtisch. Hier, vor dem flimmernden Rechteck des Monitors, ist der Autor ganz bei sich. Keine Ablenkung, nirgends. Was er in den langen Wintermonaten versäumt, holt er im Sommerhäuschen der Eltern nach. Hier, rund 60 Kilometer von Vilnius entfernt, lebt die Familie in der warmen Jahreszeit. Bevor es soweit ist, wird er seiner alten Liebe Leipzig wiederbegegnen – beim Auftritt Litauens zur Buchmesse im März. „Ich hoffe, dass diese Begegnung Stereotype aufbricht, dass deutsche Leserinnen und Leser unsere litauische Literatur als zeitgenössisch und modern für sich entdecken.“ Das sollte gelingen: Für Laurynas Katkus, den Wanderer zwischen den Welten, ist der Leipziger Bücherfrühling ein Heimspiel.
Laurynas Katkus, Jahrgang 1972, studierte Philologie in Vilnius, Leipzig und Berlin und promovierte über Exil in der modernen Lyrik. Sein aktueller Essayband „Moskauer Pelmeni“ ist im Leipziger Literaturverlag erschienen. Katkus lebt als freier Autor und Übersetzer mit seiner Familie in Vilnius.
Fotos: Ramūnas Danisevičius