„Ein ordentliches Buch ist ja nicht dafür da, dass der Leser besser schläft, sondern dass er aus dem Bett springt und in Unterhosen geradewegs zum Herrn Schriftsteller rennt und ihn fäustlings belehrt“, heißt es in Bohumil Hrabals (1914-1997) „Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene“. Bücher sollen Leser beunruhigen, aufwühlen, zum Weiterdenken und Bessertun animieren. Doch zuvor müssen die Werke an die geneigte Leserin, den Leser gebracht werden. Was sind da vier Messetage in Leipzig gegen ein ganzes Kulturjahr? Das müssen sich auch die Organisatoren des tschechischen Gastlandauftritts zur Leipziger Buchmesse 2019 gefragt haben, rein rhetorisch, versteht sich – und kreierten ein Kultur-Event in Dauerschleife, das ab Herbst 2018 in Leipzig und im gesamten deutschsprachigen Raum rund 14 Monate lang Buchkultur, Dichter und Denker, Kunst, Comics, Musik, Design und Fotografie aus der Tschechischen Republik präsentiert. „Ziel des Projekts ‚Tschechisches Kulturjahr’ ist es, die tschechisch-deutschen Kulturbeziehungen und das Bewusstsein über zwei historisch, sprachlich und geographisch eng verwandte Länder zu stärken. Deshalb ist eine Reihe von Programmen so konzipiert, dass sie zu einem dauerhaften Bestandteil des tschechisch-deutschen Kulturaustausches werden können“, betont Projektkoordinator Martin Krafl. Start und Abschluss des Kulturjahres sind in Leipzig geplant, der Partnerstadt Brünns. „Wir freuen uns darauf, in den kommenden Monaten verstärkt tschechische Kultur in Leipzig erleben zu dürfen, denn Leipzig und Brünn verbindet eine sehr enge Partnerschaft, der dieser spannende Auftritt Tschechiens in Leipzig neue Impulse verleiht“, unterstreicht Skadi Jennicke, Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur der Stadt Leipzig.
Das tschechische Kulturjahr wird am 13. Oktober 2018 mit dem Leipziger Opernball eröffnet, der diesmal unter dem Motto „Ahoj Česko“ steht. 2018 ist ein Jahr der besonderen Jubiläen für unser Nachbarland: 25 Jahre Zerfall der Tschechoslowakei in zwei selbständige Staaten, 50 Jahre Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und 100 Jahre Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik, nicht zu vergessen das 45jährige Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Leipzig und Brünn. Musikalisch wird sich der Opernball in voller musikalischer Bandbreite von Klassik und Jazz über Schlager bis hin zum politischen Lied entfalten: Als Star-Gast des Abends ist Karel Gott angefragt, die „goldene Stimme aus Prag“, zudem tritt die international gefeierte tschechische Mezzosopranistin Dagmar Pecková mit einem Kurt-Weill-Programm auf. Im Rahmen des vom 23. bis 31. Oktober stattfindenden Leipziger Literarischen Herbsts freut sich die Messestadt auf Lesungen und Gespräche tschechischer Autorinnen und Autoren; unter anderem stellt sich eine erste Teilnehmerin des Residenzprogramms Leipzig/Brünn mit ihren Arbeiten vor. Aus Anlass des 80. Geburtstags von Jiří Menzel, einer der Hauptfiguren der Nouvelle Vague, veranstaltet die Schaubühne Lindenfels eine Filmreihe; im November soll der oscarprämierte Filmregisseur sogar vor Ort sein. Zur Grassi Messe [http://www.grassimesse.de] im Oktober werden tschechische Designerinnen und Designer erwartet – und die Universität Leipzig plant ein Colloquium zu Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937), dem ersten Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei. „Den zweiten Namen Garrigue nahm Masaryk nach der Heirat mit der amerikanischen Industriellentochter Charlotte Garrigue an“, erklärt Programmkoordinator Martin Krafl. „Und wo hat er sie kennengelernt? In Leipzig!“
Auch der Frühling 2019 wartet mit kulturellen Hochkarätern auf: Das Institut für Slawistik der Universität Leipzig bereitet ein literarisches Colloquium zu zwei berühmten gebrannten Kindern des Realsozialismus vor, die sich ihre Utopie einer humanen Gesellschaft dennoch bewahrt haben – Milan Kundera und Bohumil Hrabal, den wir eingangs zitierten. Die Schaubühne Lindenfels bereitet abermals eine Filmreihe vor, diesmal werden, in Kooperation mit dem Filmarchiv der Tschechischen Republik, Literaturverfilmungen zu sehen sein. Die Leipziger Stadtbibliothek, der Club Anker und die Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) zeigen eine Ausstellung zu 12 zeitgenössischen tschechischen Kinderbuch-Illustratoren, begleitet von Workshops. „Zdeněk Milers ‚Kleiner Maulwurf’ ist zwar immer noch schön“, lacht Krafl, „aber es gibt bei uns längst auch andere populäre Helden“. Das Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzigschließlich zeigt eine Ausstellung zur tschechischen Avantgarde-Buchkunst.
Für Kinder und Jugendliche ist mit dem Buchsommer „Kapitäne Ahoj!“ in der Leipziger Stadtbibliothek eine eigene Reihe geplant, auch hier wird eine Ausstellung tschechischer Kinderbuch-Illustrationen zu sehen sein. Und was bringt der Herbst 2019? Im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, im Zeitgeschichtlichen Forum sowie in der Schaubühne Lindenfels werden, aus je unterschiedlichen Blickwinkeln, Bedeutung und Wirkung der Charta 77 beleuchtet – in einer Ausstellung, begleitenden Debatten und Lesungen und einer Filmreihe unter dem Motto „Mensch & Macht. Alltag in der Diktatur“. Martin Krafl ist mit der Planung hoch zufrieden: „Ursprünglich wollten wir diese Veranstaltungen auch ins Frühjahr 2019 legen. Aber so läuft das Jahr bis in den Herbst – und unser roter Faden, die 30 Jahre seit der Wende in Ost- und Mitteleuropa, lässt sich ideal mit dem runden Jubiläum der friedlichen Revolution verbinden.“
Höhepunkt des tschechischen Kulturjahres ist die Leipziger Buchmesse (21. bis 24. März 2019), in deren Anschluss die Autorinnen und Autoren ihre neu übersetzten tschechischen Bücher in den Literaturhäusern und Kulturinstitutionen zahlreicher Städte in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorstellen: In Berlin, Bremen, Hamburg, Köln, Frankfurt, Bonn, München, Heidelberg und Stuttgart, in Wien, St. Pölten, Krems, Linz, Salzburg und Graz sowie in Zürich und Basel. Der krönende Abschluss des tschechischen Kulturjahres wird am 8. November 2019 in der Leipziger Oper gefeiert – mit einem Gastspiel des Nationaltheaters Brünn: Leoš Janáčeks Oper „Jenůfa“.
Fotos: K. Bartošová (Prag), Opernball Leipzig Production GmbH/Felix Abraham, Schaubühne Lindenfels