Aus dem Portugiesischen, Spanischen und Katalanischen hat Frank Henseleit, Jahrgang 1964, unter anderem Fernando Pessoa, Jorge Luis Borges und Ernesto Sábato übersetzt. 2019 gründete er in Köln den Kupido Literaturverlag; im Corona-Jahr kamen die ersten Bücher. Was hat ihn dazu gebracht, mit Mitte 50 noch einmal die Schreibtischseite zu wechseln? Vor allem wohl der Umstand, dass sich für das großangelegte „iberische Panorama“, das ihm vorschwebt, kein verlegerischer Hafen finden wollte. „Ich habe in den letzten Jahrzehnten so viele literarische Projekte pflückreif vorbereitet, dass es mich immer stärker drängte, das endlich umzusetzen.“ Beispielhaft dafür stehen zwei großangelegte Werkausgaben: Die des Spaniers Manuel Chavez Nogales soll es auf 11 Bände bringen, chronologisch angelegt von 1928 bis 1944. Im Frühjahr 2022 wird der Briefwechsel des Bohème-Dichters Mário de Sá-Carnairo mit Fernando Pessoa eine neunbändige Sá-Carnairo-Ausgabe eröffnen. Dieser spannende Briefwechsel lag bereits im Vorfeld des portugiesischen Gastland-Auftritts in Frankfurt 1997 bei renommierten deutschsprachigen Verlagen wie Hanser oder Wagenbach – allein, die Zeit war wohl noch nicht reif. Nun hat Frank Henseleit den aufwändigen Band selbst gestemmt und noch einmal um ein Jahr verschoben – um ihm im Rahmen des Leipziger Portugal-Auftritts „Unerwartete Begegnungen“ die ihm gebührende Beachtung zu sichern.
Der todessehnsüchtige Mário de Sá-Carneiro, 1890 in Lissabon geboren und 1916 durch Selbstmord aus dem Leben geschieden, war Dramatiker und Prosaist, zu dichten begann er erst unter dem Einfluss seines Freundes Pessoa in Paris. Nach dem für die Werkausgabe wichtigen Briefwechsel wird man die portugiesische Literaturgeschichte nicht neu schreiben müssen. Doch auch der große Nationaldichter erscheint hier in neuer Akzentuierung: „Wären die Briefe Pessoas an Mário de Sá-Carneiro erhalten und zusammen mit denen von Sá-Carneiro an Pessoa herausgegeben worden, wäre auch die Agenda der Entdeckung Pessoas als großer Dichter Portugals eine andere gewesen“, ist Henseleit überzeugt. Sá-Carneiro jedenfalls winkte schon mal mit dem Zaunpfahl in Richtung Nachwelt, wenn er im Juli 1914 an Pessoa schreibt: „Sie haben ja so recht; die sensationelle literarische Neuigkeit im Jahr 1970, das Erscheinen des unveröffentlichten Briefwechsels zwischen Fernando Pessoa und Mário de Sá-Carneiro – herausgegeben und kommentiert von … (Rauschen im Mysterium!)“
Da trifft es sich gut, dass Übersetzer Henseleit mit dem für Mai geplanten Erzählband „In Evaristos Apotheke“ noch drei Preziosen von Pessoa selbst ausgegraben hat. Die Titelerzählung und „Die Stunde des Teufels“, zwei Extreme zwischen Tagespolitik und Religion, werden von einer späten Version des „Bankiers als Anarchist“ aus dem Jahr 1935 zusammengehalten, Pessoas letztem Lebensjahr. „Ich habe das nicht nur deshalb herausgesucht, weil es ein interessantes Zeitdokument ist“, erklärt Henseleit. „Es ist auch gleichsam ein Kommentar zu unserer Gegenwart, wo die Außerkraftsetzung demokratischer Grundrechte zumindest diskutiert wird.“
Und wie schätzt der Verleger Frank Henseleit die aktuelle Präsenz portugiesischer Literatur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ein, fast 25 Jahre nach der Ehrengast-Präsenz in Frankfurt und mit Blick auf den pandemiebedingt nach 2022 verschobenen Gastlandauftritt zur Leipziger Buchmesse? Fernando Pessoas spät entdecktes Meisterwerk „Buch der Unruhe“, 1985 zuerst auf Deutsch erschienen, gehört längst zur Weltliteratur und ist in aller Munde – ebenso wie José Saramago, der 1998 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. „Wir haben jetzt die Chance, eine neue Schriftstellergeneration zu entdecken, die sich vom Mythos der ganz Großen – Fernando Pessoa, José Saramago, António Lobo Antunes – befreit hat.“ Gonçalo M. Tavares, 1970 als Sohn eines Bauarbeiters in Angola geboren, gilt – spätestens nach der Ehrung mit dem José Saramago Preis im Jahr 2005 – als eine der großen Überraschungen der jüngeren portugiesischen Literatur. Mit seinem zehnbändigen Zyklus „Das Viertel“ hat Gonçalo M. Tavares ein einzigartiges Werk in Form eines literarischen Chiado erschaffen, den er sukzessive mit illustren Persönlichkeiten bevölkert hat. In der Edition Korrespondenzen konnten deutschsprachige Leser bisher die Bekanntschaft mit den Herren Brecht, Valéry, Juarroz, Henri und Kraus machen – jeder von ihnen ist der Bewohner eines eigenen kleinen Buches. Für seine Reihe mit Reiseberichten, die unter dem Label „Travelogue“ erscheint, macht uns Henseleit mit einer anderen Facette von Tavares bekannt: 2016 war der Portugiese mit seinem Begleiter, Jonathan, zu einer Entdeckungsfahrt in die USA aufgebrochen – mit einem naiv gemalten Porträt von Franz Kafka im Gepäck. „In Amerika, sagte Jonathan“ ist eine schräge Parabel auf das Land aller Verschollenen, dass man, wie der Verleger in seiner Vorschau schreibt, „am besten über Cape Canaveral verlässt“.
Obwohl Henseleit sein Startprogramm wegen Corona umstellen musste, glückte ihm letztes Jahr gleich ein Überraschungs-Coup: Jaime Begazos experimenteller Kurzroman „Die Zeugen“ brachte es auf die „Weltempfänger“-Bestenliste von Litprom. Dass die Barsortimente seine vom Feuilleton gefeierten ersten Bücher anfangs nicht listeten, ärgerte den Neu-Verleger; seine Auslieferung LKG sprang mit dem Online-Marktplatz buchwasgutes.de immerhin in die Bresche. Eigentlich wollte Frank Henseleit in seinem zum Verlagsatelier umgebauten Ladenlokal in der Kölner Südstadt Veranstaltungen präsentieren. Corona bremste diese Pläne ebenso aus wie die Agenda zur inzwischen pandemiebedingt abgesagten Leipziger Buchmesse. Für Leipzig hatte Henseleit mit seiner Übersetzer-Kollegin Monika Lustig-van Diesen von der Edition Converso bereits einen kleinen Doppelstand gebucht. Wer, wie diese beiden Mittelmeer-Aficionados, die Wirklichkeit des Übersetzerberufs aus dem Effeff kennt, kann womöglich ein fairerer Verleger sein. Dass die nur ein Jahr vor Kupido gegründete Edition Converso nun den Förderpreis zum Kurt Wolff Preis erhält, begreift Verleger Frank Henseleit auch als Ansport für die eigene Arbeit: Nur unter guten Rahmenbedingungen, davon ist er überzeugt, kann literarische Arbeit auch zu guten Ergebnissen führen.
Fotos: Michael Bause (Porträt Frank Henseleit), Kupido Literaturverlag