Autor: Andreas Platthaus

Romane in Bildern
9. Dezember 2015
Comics in Publikumsverlagen: Ausdrucksbreite und Formenspektrum des Genres werden hierzulande gerade erst entdeckt.
Autor: Andreas Platthaus

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9. Dezember 2015
Comics in Publikumsverlagen: Ausdrucksbreite und Formenspektrum des Genres werden hierzulande gerade erst entdeckt.

Dass sich die Einstellung von etablierten Belletristikverlagen gegenüber Comics geändert hatte, wurde mir klar, als ich von Suhrkamp im Jahr 2008 dazu eingeladen wurde, eine neue Reihe mit gezeichneten Adaptionen von Literaturklassikern herauszugeben. Dass sich doch noch nicht so viel geändert hatte, wurde mir klar, als ich dann erstmals mit der Verlagsspitze und einigen Comiczeichnern, deren Mitwirkung ich erhoffte, zusammensaß. Die Erwartungen an Verlaufszahlen von Comics waren ebenso unrealistisch wie die Vorstellungen vom nötigen Arbeitsaufwand. Bei den Auflagen denken Verlage gern an „Asterix“ mit seinen Millionenstartauflagen, was aber leider ein einmaliges Phänomen ist, beim Arbeitsaufwand an die Mühe, die für ein normales Buch von vielleicht 150 Seiten nötig ist. Doch Zeichnen kostet meist mehr Zeit als Schreiben – normal bei Comics sind eine bis zwei Seiten Reinzeichnung pro Tag –, und das Schreiben kommt ja noch dazu, weil auch eine literarische Vorlage erst einmal so umgearbeitet werden muss, dass man sie überhaupt zeichnen kann.

Traum vom „Schul-Comic“

Zudem war es der Wunsch des Verlags, dass jeder seiner Comicadaptionen der vollständige Text der Vorlage beigegeben würde, was ein groteskes Ungleichgewicht geschaffen hätte, denn die gezeichneten Versionen von Belletristik haben im Regelfall deutliche weniger Seiten, weil man durch die Bilder vieles leichter darstellen kann, was literarisch ausführlich beschrieben werden muss, und Comic generell nicht allzu textlastig sein sollten. Faktisch wären bei Umsetzung der Idee einer Kombination von geschriebenem und gezeichnetem Buch nur noch Erzählungen oder Novellen für eine Adaption in Frage gekommen – ein Konzept, das wenige Jahre später die Büchergilde Gutenberg umgesetzt hat, als sie E.T.A Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“ und Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ auf diese Weise herausbrachte. Suhrkamp träumte von Frisch-, Hesse- oder Bachmann-Adaptionen. Mit einem Wort: von Schul-Comics, die im Deutschunterricht so gut verwertbar wären wie im Kunstunterricht.

Erfolg mit neuem Konzept

Diese Erwartungen waren also dreifach unrealistisch, und es ist wohl kein Zufall, dass sich von den damals eingeladenen Comiczeichnern nur einer für das Projekt gewinnen ließ: Ulf K., der allerdings erst sechs Jahre später seine Version von Bertolt Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“ fertig stellte, eine Sammlung von kurzen Parabeln. Und doch wurde die Suhrkamp-Graphic-Novel-Reihe ein großer Erfolg – gewiss mehr publizistisch als finanziell –, weil der Verlag nicht auf seinen Vorstellungen beharrte und sich schnell von dem Konzept löste, den Comics die Ausgangstexte beizugeben. Auch Geduld wurde aufgebracht, denn der erste Band, Nicolas Mahlers Adaption von Thomas Bernhards Roman „Alte Meister“, erschien erst 2011. Doch er wurde nach Judith Schalanskys „Hals der Giraffe“ das von der Kritik meistbesprochene Suhrkamp-Buch des Jahres und verkaufte sich mit mehr als 10.000 Exemplaren für einen anspruchsvollen Comic glänzend. Seitdem sind in der Graphic-Novel-Reihe des Verlags zehn Bände erschienen, darunter Bearbeitungen von Marcel Beyer, Robert Musil, Lewis Carroll, Mark Twain, aber mittlerweile auch mit Volker Reiches „Kiesgrubennacht“ eine erste eigenständige Comicproduktion.

Durchbruch mit Art Spiegelman

Suhrkamp war trotzdem kein Pionier auf diesem Feld; der Verlag genoss wegen seines literarischen Renommees lediglich das größte Aufsehen. Als erster großer deutscher Belletristikverlag hatte Rowohlt bereits in den siebziger Jahren den japanischen Manga „Barfuß durch Hiroshima“ von Keiji Nakazawa verlegt, die autobiographische Schilderung eines Jungen, der den Atombombenangriff vom 6. August 1945 überlebt hat. Allerdings erfüllte der Band nicht die Erwartungen des Verlags, und so blieb die im Original insgesamt vierteilige Erzählung in Deutschland für dreißig Jahre ein Torso, ehe der Comicverlag Carlsen sie neu und vollständig herausbrachte. Rowohlt war es aber gleichfalls, wo 1987 Ralf Königs Schwulencomic-Komöde „Der bewegte Mann“ erschien und 1989 dann der erste und 1992 der zweite Band von Art Spiegelmans „Maus“ – einer der größten Comicerfolge weltweit und diesmal auch in Deutschland. Wobei das Haus den Zuschlag deshalb bekommen hatte, weil der erste deutsche Rechteinhaber, der Zweitausendeins Verlag, einen Übersetzer engagiert hatte, der Spiegelmans Vorlage zu frei ins Deutsche gebracht hatte, weshalb dann die Reinbeker mit ihrem exzellenten Ruf für Übersetzungen aus dem Englischen zum Zuge kamen. Rowohlt bescherte das ein Buch, dem das gelungen ist, was Suhrkamp sich zwei Jahrzehnte später auch für seine Comics erträumte: Schullektüre in Deutschland zu werden.

Zauberwort „Graphic Novel“

„Maus“, die Geschichte von Art Spiegelmans Eltern, die als polnische Juden Auschwitz überlebt haben und dann nach Amerika auswanderten, wo Spiegelmans Mutter 1968 den Freitod wählte, hat den Comic revolutioniert: in seinen erzählerischen Mitteln, aber mehr noch in der öffentlichen Wahrnehmung. Plötzlich wurde erkannt, welche Möglichkeiten diese Erzählform bot, und Leser wie Publikumsverlage suchten ähnliche Bücher. Aber nur abermals Rowohlt fand auch welche, nämlich weitere Bände von Ralf König. Anderes ungewöhnliches Material jedoch gab es nicht, weil sich die Zeichner und die Comicverlage an die seit Jahrzehnten etablierten Muster hielten, die eigentlich nur aus den in Format und Seitenumfang genau festgelegten Heften und Alben bestanden. Für eine „literarische Erzählweise“, die Format und Umfang eines Comics nach den Erfordernissen einer Geschichte gewählt hätte, wie es bei Romanen ja üblich ist, schien in den Comicverlagsprogrammen kein Platz zu sein – obwohl sowohl „Barfuß durch Hiroshima“ als auch „Der bewegte Mann“ und „Maus“ bereits vorgemacht hatten, dass es auch anders ging. Es musste erst der vom Comicverlagsmarketing zunächst in den Vereinigten Staaten, später auch in Deutschland geprägte Begriff „Graphic Novel“ kommen, um mehr Freiheit für die Autoren und Lektoren zu schaffen – und das Interesse der klassischen Belletristikverlage zu wecken.

Türöffner Manga

Aber das wäre gar nicht möglich gewesen ohne eine weitere Voraussetzung: die Bereitschaft des Sortimentbuchhandels, sich auf Comics einzulassen, die in Deutschland bislang als Kiosk- oder Bahnhofsbuchhandelsware galten – oder in speziellen Comicläden verkauft wurden. Für diese neue Einstellung war ein Phänomen verantwortlich, dass Ende der neunziger Jahre entstand: die Manga-Begeisterung. Die damals vor allem von den beiden großen deutschen Comicverlagen Carlsen und Ehapa aus Japan importierten Serien stießen auf ein jugendliches Publikum, das hier etwas ganz Neues entdeckte, das die eigenen Eltern, die schon mit Comics aufgewachsen waren, nicht kannten und vor allem auch nicht verstanden – zu unterschiedlich vom westlichen Comic war die Manga-Erzählweise. Ideale Voraussetzungen also für ein veritables Jugendphänomen. Zusätzlich fanden erstmals Mädchen gezeichnete Geschichten, die speziell für sie konzipiert waren, während sich die amerikanischen und europäischen Comics klar am traditionell männlichen Publikum orientierten. Mit diesen neuen Käuferschichten entstand auch die Möglichkeit, neue Vertriebswege zu wählen, denn die Manga-Fans wollten gar nicht ins alte Umfeld der Comicleser. Klassische Buchhandlungen, die es riskierten, Manga-Regale aufzustellen, erlebten einen Ansturm jugendlicher Leser, die sonst wohl nie den Weg dorthin gefunden hätten.

Klassische Publikumsverlage mischen mit

Als dann mit den Graphic Novels das nächste vielversprechende – und dazu noch „literarische“ – Comicphänomen anstand, ließ sich der Sortimentsbuchhandel gern dafür gewinnen, und so fanden die als anspruchsvoll vermarkteten Comics auch tatsächlich ein literarisches Publikum. Das wiederum machte die klassischen Verlage nachdenklich. Als einer der ersten wagte sich Knesebeck an Comics, allerdings erst einmal 2006 mit Stéphane Heuets Adaption von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ an ein Projekt, das in Format und Umfang noch dem traditionellen französischen Albenformat folgte. S. Fischer dagegen setzte auf die Bekanntheit von Art Spiegelman, als der Verlag 2008 dessen Anthologie „Breakdowns“ im Überformat herausbrachte, die stark erweiterte Neuausgabe seines Debütbands, der ursprünglich bereits 1980 auf Deutsch bei Stroemfeld/Roter Stern erschienen war. Zugleich wechselte Spiegelman auch mit „Maus“ von Rowohlt zu S. Fischer. So sind wir jetzt auch bei Comics soweit gelangt, dass Verlage erfolgreiche Autoren abwerben.

Trendsetter

Andere Belletristikverlage, die sich zuletzt an Comics versucht haben, sind Kiepenheuer & Witsch mit bislang zwei Graphic Novels von Allison Bechdel, DuMont mit Richard McGuires „Hier“, Atrium mit mehreren Bänden unterschiedlichster Provenienz, Eichborn mit Tim Dinters Adaption von Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ oder der Jugendbuchverlag Dressler mit Isabel Kreitz’ Comicversionen von Erich-Kästner-Klassikern. Das Spektrum an Namen und Themen ist breit – beste Voraussetzungen für einen anhaltenden Trend.

Andreas Platthaus, Jahrgang 1966, ist seit 1997 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig; derzeit ist er dort stellvertretender Chef des Ressorts Literatur und literarisches Leben. Neben dem Roman „Freispiel“ (Rowohlt Berlin, 2009) hat Platthaus vor allem Sachbücher veröffentlicht, darunter zahlreiche Publikationen zur Comic-Kultur.

Bildquellen: Richard McGuire/DuMont, Nikolas Mahler/Reprodukt, Suhrkamp, Eichborn, Dressler, Kiepenheuer & Witsch

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Comics für alle: Literarische Comics und Graphic Novels sind am Comic-Gemeinschaftsstand (Halle 5) und bei zahlreichen Belletristikverlagen zu erleben. Parallel zur Buchmesse eröffnet im März 2017 die 4. Manga-Comic-Con in Halle 1 ihre Tore.

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