Manga hat sich von einer Revolution in Kinder- und Jugendzimmern zu einem universellen Pop-Phänomen entwickelt, mit dem Künstler und Filmemacher auf der ganzen Welt spielen – von Tarantinos „Kill Bill“ bis zu Inszenierungen von Frank Castorf oder Doris Dörrie. Wo sehen Sie die Gründe für diese Faszination?
Berndt: Ich denke, diese Entwicklung hat nicht zuletzt mit der Digitalisierung zu tun, mit virtuellen Welten. Der klassische soziale Realismus, wie wir ihn seit dem 19. Jahrhundert kennen, wird dadurch unterlaufen, dass Menschen online verschiedene Identitäten annehmen können. Gerade junge Leute machen dabei die Erfahrung, dass Identitäten „flüssig“, kontextabhängig sind, dass man mehrere Identitäten haben kann, ohne psychisch krank zu sein. Heute ist das Leben für junge Menschen eher ein Projekt, das sich nicht mehr von der Wiege bis zur Bahre planen lässt. Für mich ist es kein Zufall, dass sich Manga nicht schon in den 70er Jahren weltweit verbreitet haben. Zum einen war der japanische Markt im Inland zu saturiert – zum anderen war das Ausland kulturell noch zu wenig aufnahmefähig. Die Postmoderne war gewissermaßen noch nicht weit genug vorangeschritten. Mit den digitalen Welten kommt dann ein anderes Welt-Bild, eine viel spielerischere Selbstwahrnehmung von Individuen. Was früher als unseriös und „kindisch“ abgetan wurde, nimmt jetzt ganz neue Formen an: Nicht nur als Mangel, sondern als Potenzial, dass man benötigt, um sich in dieser digitalen Welt zurechtzufinden.
Es geht also nicht einfach um einen von ökonomischen Interessen geleiteten Kultur-Export?
Berndt: Einfacher gestrickte Kulturwissenschaftler sprechen gern von „Einfluss“. Aber es ist ja alles viel beweglicher, viel mehr im Fluss. Und die Seite, die „beeinflusst“ wird, wählt ja selbst aktiv aus, verändert Dinge und passt sie an die eigenen Gegebenheiten an.
„Der Mix macht’s, nicht die Tradition!“
Ist das heutige Manga-Fieber mit der Amerika-Begeisterung der 50er Jahre vergleichbar? Was damals Coca-Cola, Jeans und Rock’n’Roll waren, wären dann heute Sushi, Cosplay und J-Pop?
Berndt: In gewisser Weise schon. In der Politikwissenschaft gibt es den Begriff „Soft-Power“, eine Einflussnahme weniger über ökonomische und militärische Stärke, sondern vermittelt durch Kultur. Ein ähnliches „national branding“ unternimmt die japanische Regierung unter dem Schlagwort „Cool Japan“ seit den frühen 2000er Jahren. Mitte der Nullerjahre wurde das sehr stark vom Außenministerium vorangetrieben, dann wechselte der Schwerpunkt zum Wirtschaftsministerium, dem auch eine Tourismus-Agentur nachgeordnet ist.
Wenn die Phänomene, wie Sie sagen, so im Fluss sind, dann wäre Manga als genuin japanische Kunstform eine Chimäre?
Berndt: Alle populären Kulturformen haben immer, gleichsam parasitär, von fremden Kulturen gelebt. Es geht immer um Austausch! Das amerikanische Musical etwa wäre ohne die europäische Operette nicht denkbar…
Und die großen Telleraugen der Manga gehen auf die japanische Disney-Begeisterung der 50er Jahre zurück?
Berndt: Der Einfluss der USA war in den 50ern sehr groß, es wurden aber auch französische Filme oder Hermann Hesse sehr stark rezipiert. In den 60er, 70er Jahren war das „westliche Moment“ in Japan immer auch ein modernes, das gerade die jungen Leute angesprochen hat. Der Mix macht’s, nicht die Tradition! Japan ist oft für seine Fähigkeit bewundert worden, Dinge zu amalgamieren, zu hybridisieren. Vieles in der Manga-Kultur hat vorweggenommen, was heute, im digitalen Zeitalter, die ganze Welt betrifft: Statt eines auf die Spitze getriebenen Individualismus haben wir es mit Geschmacks-Gemeinschaften, mit einer Kultur des Teilens zu tun: Junge Leute lernen voneinander, was man über Harry Potter alles wissen muss, um am Fandome teilnehmen zu können. Das sind ganz neue, unhierarchische Strukturen. Viele sagen mit Blick auf Manga: Sieht doch alles gleich aus, wo ist die Originalität? Gerade in der Fan-Produktion gibt es jedoch feine Unterschiede in der Gewichtung, die nur in diesen Kreisen verstanden werden. Das ist eine neue Art von Ästhetik, die in die Zukunft weist.
Ist Manga eine Literatur der kulturellen Globalisierung?
Berndt: Noch in den 70er, 80er Jahren haben unsere deutschen Comic-Kritiker die Unzugänglichkeit von Manga beklagt, darin eine ganz andere Welt ausgemacht. Wenn wir heute das Gegenteil erleben, hat das mit ähnlichen Lebensbedingungen, ähnlichen Wahrnehmungen weltweit zu tun.
Manga made in Germany?
Wie ‚weltmarktfähig’ sind dann deutsche Manga-Künstlerinnen und Künstler? Entsteht da etwas Eigenes?
Berndt: Die Frage ist, was man unter dem „Eigenen“ verstehen will? Es betrifft ja hauptsächlich Frauen wie Martina Peters, Inga Steinmetz oder Christina Plaka. Der Lackmustest ist: Können und wollen die in Japan produzieren? Die Antwort lautet zumeist: Nein. Japanische Verlage sträuben sich sehr gegen narrative Welten, die den japanischen Leserinnen unvertraut sind. Anike Hages Manga-Adaption von Gudrun Pausewangs Jugend-Klassiker „Die Wolke“ etwa wurde nach Fukushima in japanischer Übersetzung veröffentlicht – und hatte es dort sehr schwer. Technisch sind deutschsprachige Manga-Zeichnerinnen heute exzellent, sie finden ihr Publikum aber vorrangig auf dem heimischen Markt, in Europa und Nordamerika.
Manga scheint ein deutliches Indiz dafür, dass sich die alte Trennung von E und U eigentlich überlebt hat?
Berndt: Heute fließen die Dinge – in den elektronischen Welten und in der Wahrnehmung der Leser – zusammen. Je nach Tageszeit und -form rezipiert man anders. Es müssen ja nicht immer 600-Seiten-Romane sein, oder? Und selbst Innerhalb des Manga-Komplexes geht es ja nicht nur um Gedrucktes, sondern ebenso um Anime, Spiele, Cosplay – um das eigene Weiterspinnen von Geschichten und Charakteren. Um das Füllen von „Löchern“ in den Geschichten. Das Problem: Auf dem deutschen Markt finden wir heute nur einen kleinen Ausschnitt der unglaublichen Vielfalt von Manga in Übersetzung vor; hauptsächlich Titel, die eher kommerziell orientiert und stark auf die Fan-Kultur ausgerichtet sind. Anders in Frankreich, da ist ein ganz breites Spektrum da, sicher auch durch eine andere Tradition von Comic-Kultur und eine stärkere Industrie.
Man müsste also die Differenzierungen stärker in den Blick nehmen?
Berndt: Das ist schwierig, weil Manga im allgemeinen Bewusstsein so stark mit der Fan-Kultur verbunden ist. Aber auch die Bestseller jenseits der literarischen, eher an Graphic Novels orientierten Manga sind sehr interessant – und was die jungen Leute damit machen: Wie sie lesen, Dinge benutzen, kreativ weiterentwickeln. Das finde ich total wichtig!
Lebens-Wahrheit der Maskeraden
Die kulturelle und publizistische Öffentlichkeit tut sich zuweilen dennoch schwer mit dem Phänomen…
Berndt: Wer Manga heute ignoriert oder als vorübergehende Modeerscheinung geringschätzt, tut das häufig mit „adultistischen“ Argumenten, die schon immer gegen Jugendkultur ins Feld geführt wurden: Die Jugendlichen seien nicht sozial engagiert, politisch unverantwortlich – und das Hauptgewicht liegt immer auf der Verbalisierung: Das, was nicht in Worte gegossen wird, kann man nicht ernst nehmen. Dass aber auch mit einer visuellen Sprache, mit Körpersprache gearbeitet wird, die ganz andere Formen von Sozialität herstellen, gerät dabei aus dem Blick. Selbst jene, die die Comic-Kultur verteidigen wollen, geraten auf dieses Glatteis. Es wäre sinnvoller, die defensive Argumentation zu verlassen und zu fragen: Wo sind die neuen Möglichkeiten? Die moderne Kultur war sehr auf Darstellung, auf Repräsentation orientiert. Die postmoderne, digitale Kultur hat dagegen viel mit Performanz zu tun. Im „Durchspielen“ und „Vorspielen“, in den Maskeraden, steckt auch eine neue Form von Lebens-Wahrheit.
Sie haben als Wissenschaftlerin auch am Kyotō International Manga Museum gearbeitet. Was können wir vom dort gepflegten Umgang mit dem Phänomen Manga lernen?
Berndt: Im Manga Museum in Kyotō gibt es auf allen Fluren Bücherregale; wenn am Wochenende die Familien kommen, greifen sich Großeltern, Eltern und Kinder ihre Lieblingsbücher. Dann sitzen alle draußen auf dem künstlichen Rasen und lesen – und manchmal erzählen sie sich gegenseitig, was sie lesen. Ein wunderbarerer Effekt! Unterschiedlichste Gruppen von Lesern, die durch die Industrie in ihren jeweiligen Geschmacks- und Genre-Nischen festgehalten werden, kommunizieren miteinander! Und lernen so andere Blickwinkel auf die gleichen Erzeugnisse kennen. In Deutschland könnte ich mir das sehr gut in Bibliotheken vorstellen – oder eben auf der Buchmesse. Ältere könnten den Jungen da einfach mal zuhören, sich erklären lassen, wie man Manga liest. Überraschende Begegnungen zu organisieren, ist immer spannend! Wieso nicht mal eine bekannte Manga-Zeichnerin und eine Schriftstellerin gemeinsam lesen und diskutieren lassen?
Jaqueline Berndt, geboren 1963 in Jena, studierte Japanologie und Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, wo sie 1991 mit einer Arbeit über Manga promovierte. Von 1991 bis 2017 lebte sie in Japan, wo sie als Professorin an der Ritsumeikan-Universität Kyotō und der Universität Yokohama lehrte. Ab 2009 war sie Professorin für Comic-Theorie an der Manga-Fakultät der Kyotō-Seika-Universität und stellvertretende Direktorin des International Manga Research Center am Manga-Museum von Kyotō. Seit April 2017 ist Berndt Professorin für Japanische Sprache und Kultur an der Universität Stockholm. 2015 erschien im Leipziger Universitätsverlag ihre Studie „Manga: Medium, Kunst und Material“.
Fotos: Kyoto Seika University International Manga Research Center/Kyoto International Manga Museum, Sukeracko, Ravensburger, Leipziger Buchmesse