Und dann hat es BOEM! gemacht. Oder BUMM! Mit einem ordentlichen Paukenschlag jedenfalls fiel Antwerpen im Oktober 1914 der Übermacht der deutschen Geschütze zum Opfer. Die Stadt wurde eingenommen und blieb vier Jahre lang besetzt. Ein Schock! Der flämische Dichter Paul van Ostaijen verarbeitete diese überwältigende Erfahrung in dem Gedichtband Besetzte Stadt (1921), dessen Formenreichtum aus einer Welt erwächst, die durch den Krieg tief erschüttert ist. Es ist eines der ehrgeizigsten literarischen Experimente der Avantgarde – und wurde von van Ostaijen mit einer Typographie bedacht, die die Narben der Zeit trägt. Er war davon überzeugt, dass eine Welt, die in Schutt und Asche liegt, nur mittels einer zertrümmerten Sprache beschrieben werden kann. Im Heidelberger Wunderhorn Verlag erscheint nun, pünktlich zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern, die erste Übersetzung des kompletten Gedichtbands im Original-Layout: Ein verlegerischer Coup!
Aber wer, bitte, ist dieser Paul van Ostaijen? Zunächst einmal ist er einer der bedeutendsten Dichter der niederländisch-sprachigen Welt. Während des Ersten Weltkriegs entwickelte er sich zu einem erfinderischen Dichter: 1896 in Antwerpen geboren, gründete er 1917 die Avantgardegruppe „Bond Zonder Verzegeld Papier“. Die Lyrikbände Music-hall (1916) und Het sienjaal (1918) machten ihn berühmt. In seiner Kunstkritik legte er zudem den Grundstein für eine neue Kunsttheorie der Moderne. Als überzeugter Aktivist setzte er sich für ein sozialeres Flandern in einem geeinten Europa ein und musste Belgien schließlich verlassen. Sein Ziel: Berlin!
Wir erfahren all das in fast akzentfreiem Deutsch vom Schriftsteller und flamboyanten Gelehrten Matthijs de Ridder. De Ridder, 1979 in Apeldoorn geboren, studierte niederländische Sprache und Literatur an den Universitäten Groningen und Antwerpen, wo er über die aktivistische Gegentradition in der flämischen Literatur 1912 – 1933 promovierte. Heute ist er Schöpfer eines ziemlich coolen Oeuvres an der Schnittstelle von Literatur und Geschichte. Rebelse ritmes („Rebellische Rhythmen“, 2012) und De eeuw van Charlie Chaplin („Das Jahrhundert des Charlie Chaplin“, 2017) sind schwungvolle Kulturgeschichten des 20. Jahrhunderts. Sein fast 1000-seitiger Biografie-Ziegelstein „Paul van Ostaijen. Der Dichter, der die Welt verändern wollte“ (2023) erhielt begeisterte Kritiken und wurde für den flämischen Literaturpreis De Boon nominiert. Kataklump, eine Adaption von Paul van Ostaijens Abenteuern mit der deutschen Avantgarde, ist eben in deutscher Übersetzung bei Wunderhorn erschienen.
„Kataklump“ setzt im Oktober 1918 ein, als der junge Paul van Ostaijen auf der Suche nach einem Neubeginn in Berlin ankommt, zu jener Zeit Hauptstadt des Expressionismus. Die bildenden Künstler Fritz Stuckenberg, Lyonel Feininger, Arnold Topp und Heinrich Campendonk, die gute Freunde van Ostaijens werden, sind zu diesem Zeitpunkt dringlich auf der Suche nach einer Alternative für die allmächtige Galerie „Der Sturm“. Van Ostaijen bringt frischen Wind, Begeisterung und revolutionäre Ideen mit. Er ist ein Getriebener, der sein Schaffen ganz der Suche nach neuen Formen verschrieben hat – und so einen Impuls für eine neue Bewegung nach dem Blauen Reiter geben könnte. Selbst ein Manifest mit dem Titel „Kataklump“ steht im Raum.
Neben „Besetzte Stadt“ sind soeben noch zwei weitere großartige Werke von Paul van Ostaijen in deutscher Sprache erschienen: Die Feste von Angst und Pein (Arco) und Das Gefängnis im Himmel (Edition Hibana). Und es gibt ein spannendes Feedback aus dem Hier und Jetzt: Im Corona-Sommer 2020, hundert Jahre, nachdem Paul van Ostaijen seine „Besetzte Stadt“ geschrieben hatte, wurde im Rahmen des multidisziplinären Kunstprojekts Befallene Stadt deutlich, dass seine Poesie auch heute noch zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. Mehr als 150 deutsche, niederländische, flämische und österreichische Künstlerinnen und Künstler verschiedenster Sparten reflektieren vor dem Hintergrund der Krisen unserer Zeit van Ostaijens Gedichte aus dem Jahr 1920.
Begonnen als Auseinandersetzung mit der Pandemie, scheinen heute noch weitere, damals ungeahnte Konnotationen auf. Die Beiträge in dem ebenfalls bei Wunderhorn erschienenen, von Matthijs de Ridder gemeinsam mit Willem Bongers-Dek und Anna Eble herausgegebenen Band Befallene Stadt bieten überraschende Einblicke in dieses Meisterwerk der Avantgarde und erkunden zugleich die Möglichkeiten innovativer künstlerischer Formen für eine neue Welt. Mit dabei: Ulrike Draesner, Ann Cotten, Ulf Stolterfoht, Esther Kinsky, Gaea Schoeters, Franziska Füchsl, Karosh Taha, Orsolya Kalász, Franz Josef Czernin, Anneke Brassinga, Paul Bogaert, Franzobel, Pètrus Akkordéon, Maxim Februari, Radna Fabias, Alfred Schaffer, Marlene van Niekerk, Hélène Gelèns, Nikki Dekker und viele andere.
Die fünf druckfrischen Publikationen aus drei Verlagen bilden den Rahmen für gleich mehrere Programme in der Schaubühne Lindenfels während der Leipziger Buchmesse. Besucherinnen und Besucher können täglich an einem Leseatelier im Foyer teilnehmen, die Ausstellung „Besetzte Stadt / Befallene Stadt“ besuchen, sich von einer multimedialen Performance überraschen lassen und an einer intimen nächtlichen Radiosendung teilnehmen. Paul van Ostaijen, da sind wir sicher, würde das gefallen!
Wann & Wo?
20. bis 23. März, Schaubühne Lindenfels
22. März, 13.00 bis 13.30, Messestand Gastland Niederlande / Flandern (Halle 4, D 300/C 301): Kopje Koffie mit Matthijs de Ridder