Als Nominierte, Branchenprofis und Publikum an einem strahlenden Donnerstag im März 2015 unterm Glashallendach der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Sparte Belletristik entgegenfiebern, ist der Lyriker Jan Wagner, dessen Band „Regentonnenvariationen“ sich unter den Nominierten befindet, kein bisschen nervös. Noch heute, fast zehn Jahre später, erinnert er sich gut an die Situation: „Es war damals die erste Nominierung eines Lyrikbandes“, sagt er ohne alle Koketterie, „ich konnte da ohne Erwartung, ohne alle Aufregung sitzen. Weil ich dachte: Ich habe meinen Preis ja schon!“
Und in der Tat: Die bis dahin nie ausgereizte Offenheit der Leipziger Auszeichnung gegenüber Genre-Grenzen machte 2015 schon aus der Nominierung der „Regentonnenvariationen“ eine Sensation. Die Jury urteilte: „Ein Gedichtband, in dem die Regentonne zur Wundertüte wird, der Giersch zur Gischt, Unkraut und unreiner Reim ihren Charme entfalten und die Lust am Spiel mit der Sprache vor den strengen Formen nicht Halt macht: Lyrik voller Geistesgegenwart.“ Eine Wochenzeitung musste dennoch fragen: „Ist seine Poesie wirklich so gut?“ So gut, dass ihr kein Roman, noch nicht einmal ein Erzählband, das Wasser reichen konnte? Die Jurorin Meike Feßmann sprach, sehr zurecht, von einem „Paukenschlag für die Lyrik“.
Wer kennt sie nicht, die berühmte, von Hans Magnus Enzensberger ermittelte „Lyrikkonstante“: „Die Zahl von Lesern, die einen neuen, einigermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen“, befand der Autor 1989, „lässt sich empirisch ziemlich genau bestimmen. Sie liegt bei plusminus 1354.“ Von dieser Quote dürften die meisten lebenden Dichterinnen und Dichter inzwischen allerdings träumen: Im vielerorts ums Überleben kämpfenden Buchhandel ist oft nicht irrsinnig viel Platz für sie. „Lyrik ist schwürig“, kalauerte schon Wiglaf Droste. Hat sich seit der für Furore sorgenden Leipziger Auszeichnung für Jan Wagner an der Wahrnehmung von Lyrik etwas grundstürzend geändert? „Auf jeden Fall“, findet der Dichter – auch wenn sich unsere Aufmerksamkeit und die Verkaufszahlen inzwischen wieder in Richtung der Enzensbergerschen ‚Konstante’ entwickelt hätten: „Obwohl sie schon so viele Jahrtausende existiert, war Lyrik nie eine Sache fürs Massenpublikum“, sagt Wagner. „Es handelt sich um ein treues Publikum, kein außergewöhnlich großes.“
Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: Das ist undenkbar.
Jan Wagner
Dabei ist, so findet Wagner, Lyrik etwas, das eigentlich jede Leserin, jeden Leser angeht. „Lyrik ist nichts Fremdes! Die Sprache, die sie benutzt, ist unsere Sprache, die wir tagtäglich nutzen. Und auch die lyrischen Verfahren – zu vergleichen, Metaphern oder Wortneubildungen zu benutzen – sind Teil unseres Alltags. Insofern ist das Publikum groß – auch wenn es oft nicht ahnt, dass es das Publikum ist.“ In „Die Sandale des Propheten“, einem Band mit „beiläufiger Prosa“, schrieb Jan Wagner schon 2011: „Das Publikum ist riesig, auch wenn es davon vielleicht noch nichts weiß oder wissen will.“ Die Frage sollte also nicht sein, „ob es möglich ist, von der Poesie zu leben. Die Frage sollte sein, ob es möglich ist, ohne Poesie zu leben. Und nein: Das ist undenkbar.“
So geht die Arbeit einfach weiter. „Es gibt immer das nächste Gedicht, das man schreiben muss – und will!“ Zweiundzwanzig Jahre nach seinem Debüt „Probebohrung im Himmel“ hat Jan Wagner im letzten Herbst den Band „Steine & Erden“ veröffentlicht. „Es geht immer nur um den morgigen Text. Und die schöne Überraschung des neuen Gedichts, das zu schreiben ist.“
Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren, lebt als Lyriker, Essayist und Übersetzer in Berlin. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017).
Jan Wagner: Steine & Erden. Gedichte. Hanser Berlin 2023, 112 Seiten, 22 Euro