Autor: Nils Kahlefendt

Foto: Täubchenthal

Vor dem Fest
10. März 2016
Der Erfolg von Leipzig liest hat viele Mütter und Väter. Höchste Zeit für einen Blick hinter die Kulissen.
Autor: Nils Kahlefendt

Foto: Täubchenthal

Vor dem Fest
10. März 2016
Der Erfolg von Leipzig liest hat viele Mütter und Väter. Höchste Zeit für einen Blick hinter die Kulissen.

Vor 1989 galt Leipzig als heimliche Hauptstadt der DDR, mindestens zu den Messen war sie ein Ort der Wiedervereinigung auf Zeit. Als nur wenige Monate nach dem Mauerfall die Leipziger Buchmesse 1990 – damals noch als Teil der Frühjahrsmesse – eröffnet wurde und sich Buchhändler und Verleger aus Ost und West erstmals wieder ungehindert begegnen konnten, hatte sich die deutsch-deutsche Bücherlandschaft radikal verwandelt. Die Verlags-Konkurrenz aus den Altbundesländern drängte auf den Ostmarkt, der planwirtschaftlich organisierte ostdeutsche Buchhandel wurde gleichsam im Zeitraffer in die Marktwirtschaft gestoßen.

Geburtsstunde des Lesemarathons

Nicht wenige prognostizierten in dieser Situation das Aus für die zweite, kleinere deutsche Buchmesse. Deren erster eigenständiger Auftritt nach der Wende, zu dem im April 1991 nur rund 25.000 Besucher kamen, schien den Skeptikern Recht zu geben. In diese Situation fällt die Geburtsstunde von Leipzig liest. Als Geburtshelfer des Lesemarathons an der Pleiße fungierte der Bertelsmann Club, der die Premiere, unterstützt von Messe und Stadt, im Mai 1992 an den Start brachte: 80 Autoren lasen und diskutierten an knapp 160 Orten – von Bildermuseum und Auerbachs Keller bis zu heute schon legendenumwobenen Schauplätzen wie den kanonenofenbefeuerten Werkstatträumen der Galerie Eigen+Art oder dem 1990 gegründeten ersten Bio-Laden der Noch-DDR. Das Unternehmen schlug ein: Die Buchmesse verzeichnete ein sattes Besucherplus von 46 Prozent; allein 1000 Menschen strömten zu Günter Grass, der in Speck’s Hof aus seiner Erzählung „Unkenrufe“ las.

Autoren zum Anfassen

Foto: Leipziger Buchmesse

Was Leipzig liest betraf, waren solche nicht nötig: Das junge Lesefest gedieh prächtig. Und wurde, Schritt für Schritt, zu einer echten Gemeinschaftsaktion mit einer wachsenden Zahl von Partnern. „In den ersten Jahren ging es vor allem darum, Strukturen zu schaffen, Leipzig auch für große Autorennamen attraktiv zu machen“, erinnert sich Christiane Munsberg, Kulturmanagerin bei Bertelsmann. Seit 1992 ist sie als Aussteller auf der Messe, 2000 feierte sie hier mit dem „Blauen Sofa“ Premiere, seit 2003 organisiert sie die Leipzig liest-Aktivitäten der Gütersloher: Erfolgs-Reihen wie die Jüdischen Lebenswelten und die Deutsch-Israelischen Beziehungen, den Krimi-Club. „Eigentlich“, so Munsbergs Überzeugung, „arbeitet die Zeit für Leipzig liest. Gerade in den Zeiten der Digitalisierung wird die direkte Begegnung, das Gespräch mit den Autoren fürs Publikum immer interessanter.“ Dem trägt auch Munsberg Rechnung: Mit der „Blauen Stunde“ erweitert sich das Format des „Blauen Sofas“ 2016 um ein tägliches Gesprächs-Fenster zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen.

Symbiotische Verbindung zwischen Stadt und Messe

Foto: Gerd Mothes

Der Umzug der Buchmesse vor die Tore der Stadt geriet 1998 auch zur Bewährungsprobe für Leipzig liest. Als das City-Biotop gegen die gläsernen Weiten der neuen Hallen eingetauscht werden sollte, mischten sich skeptische Stimmen in den Chor der Umzugs-Visionäre: Waren am Markt nicht Messetreiben und Alltagsleben, Buch und Stadt immer ins eins gefallen? Was würde nun kommen? Leipzig hat bewiesen, dass man neue Wege beschreiten kann, ohne Bewährtes aufzugeben. Im siebten Jahr, das gemeinhin als verflixtes gilt, wuchs Leipzig liest auf mehr als 700 Veranstaltungen, die nun zu fast gleichen Teilen auf dem Neuen Messegelände und in der Stadt über die Bühne gingen. Das Programm-Faltblatt war inzwischen zu einem veritablen 250-Seiten-Wälzer angeschwollen. Im September 2003 verabschiedete die Messe GmbH mit ihren bisherigen Kooperationspartnern Stadt Leipzig, Börsenverein, MDR und dem neu hinzugekommenen Kuratorium Haus des Buches eine grundsätzliche Verpflichtung, welche die Zukunft von Leipzig liest langfristig sicherte: Fortan sollte die Leipziger Messe die Organisation des Lesefests übernehmen, die konkreten Investitionen jedes Jahr neu abgesteckt werden. Der Weg für die Weiterentwicklung einer lebendigen, leserorientierten Buchmesse mit Leipzig liest als Zugpferd war frei. „Auch wenn Leipzig seine Position als große deutsche Verlagsstadt eingebüßt hat, ist es doch eine Stadt der Literatur geblieben“, bekräftigt Leipzigs Kulturbürgermeister Michael Faber. „Die Buchmesse mit Leipzig liest ist eines unserer wichtigsten kulturellen Ereignisse. Deshalb unterstützt die Stadt Leipzig das Lesefest von Anfang an, inzwischen mit einem jährlichen festen Zuschuss.“

Logistischer Kraftakt

Anders als klassische Literaturfestivals ist Leipzig liest als Marketing-Verstärker für den Messeauftritt der Verlage gebaut. Jedem Aussteller steht die Teilnahme am Programm offen. Organisatoren, Veranstaltungspartnern wie hunderten literaturbegeisterten Helfern in der Stadt verlangt das Großereignis planerisch und logistisch einiges ab. Für die zehnköpfige Kern-Mannschaft um Oliver Zille gilt: Nach der Messe ist vor der Messe. Noch im Frühjahr werden, aufgrund akribischer Aussteller-Befragungen, die Weichen für den kommenden Jahrgang gestellt. Branchen-Events wie die Buchtage bieten Gelegenheit, sich schon übers Jahr mit wichtigen Verlags-Partnern zu anstehenden Themen kurzzuschließen. Die heiße Planungsphase beginnt spätestens mit der Frankfurter Buchmesse. Bis Ende November können sich die Aussteller – via Datenbank oder im direkten Kontakt mit dem Messe-Team – anmelden; Mitte Februar wird das Programm auf der Buchmesse-Website freigeschaltet. Bis alles passt, vergehen hunderte von Stunden am Feintuning. „Unsere Arbeit reicht von der Rolle des klassischen Location-Scouts über die Vermittlung zwischen lokalen Veranstaltern und Verlagen bis zum Bau ganzer Programm-Segmente“, erklärt Anja Kösler, die für die Koordination aller Veranstaltungen außerhalb des Messegeländes verantwortlich ist. Die Atmosphäre eines Ortes möglichst punktgenau mit den Wünschen der Verlage zur Deckung zu bringen – das ist die Herausforderung, der sich die Macher jedes Jahr neu stellen. Dafür, dass an den vier Messetagen jedes Mikro auch in akustischen Problemzonen gut klingt, sorgen erfahrene Dienstleister wie die Leipziger Firma Frontsound.

Raum für Experimente

Foto: Leipziger Buchmesse

Lyrik im Gohliser Schlösschen? T. C. Boyle in einer umgewidmeten Industriehalle? Oder Clemens Meyer, der in einer Schleußiger Tierarztpraxis „Gedichte von Hunden“ zum Vortrag bringt, bis kein Auge mehr trocken bleibt? Leipzig liest überrascht, immer wieder. Von Schweiß und Herzblut, die vergossen werden, bis alle Rädchen perfekt ineinandergreifen, ahnt der begeisterte Besucher nichts. Das Schöne: Gewachsene Partnerschaften geben auch Raum für Experimente. So öffnet etwa seit 2008 das Rathaus seine Türen für die LitPop-Party des MDR-Jugendsenders Sputnik – die heiligen Hallen der Stadt als Ort der Begegnung zwischen junger Literatur und Pop. 2016 geht das Spektakel in die neunte Runde, an die 3000 Besucher werden allein hier erwartet. Für Uwe Oertel, Sputnik-Marketingchef und Erfinder des LitPop-Labels, ist der Abend mit Lesungen, Slams, DJs und Konzerten ein ideales Einfallstor zur jungen Zielgruppe. „Als öffentlich-rechtlicher Sender funken wir hier mit der Messe auf einer Wellenlänge.“

Die Stadt rocken – mit Literatur

Mit rund 3200 Veranstaltungen und über 3000 Mitwirkenden blickt Europas größtes Lesefest heute auf eine Erfolgsgeschichte ohne gleichen zurück. Viele Ideen und Initiativen der Literaturvermittlung haben von Leipzig aus ihren Weg in den gesamten deutschsprachigen Raum genommen. Dem Original hat die Konkurrenz nicht geschadet – im Gegenteil. Von Leipzig lernen heißt – Siegen lernen? Auch hier bewegt man sich, wie überall, auf dem schmalen Grat zwischen Kostendruck und Innovationszwang. Eingeführte Reihen müssen qualitativ ausgebaut, neue entwickelt werden. Die Messe und ihr Lesefest wollen den Markt nicht nur abbilden, sondern vorausschauend in neue Themenfelder investieren. „Wir bringen mit Literatur eine Halbmillionenstadt zum Rocken“, sagt Buchmesse-Direktor Oliver Zille. „Dass ist unser großes Pfund. Das Festival als Element der sich wandelnden Messe lebendig zu halten, jedes Jahr aufs Neue originell und einzigartig, ist personell und organisatorisch wohl unsere größte Herausforderung.“ Dass in Leipzig am Ende Autoren und Inhalte im Mittelpunkt stehen werden, dürfte bei der Neugier, Leidenschaft und Leselust seiner Bürger so sicher sein wie das Amen in der Nikolaikirche.

Leipzig liest feiert Geburtstag: Mit einem außergewöhnlichen Literaturabend in der Kongresshalle am Zoo bedankt sich die Buchmesse bei den Leipzigern für ihre Treue. Dabei sind Clemens Meyer im Gespräch mit dem Buchpreisträger in der Kategorie Belletristik 2016, Christoph Hein mit seinem neuen Roman – und ein furioser Poetry Slam (17. März 2016, ab xx Uhr).

Das Programm von Leipzig liest finden Sie unter www.leipzig-liest.de.

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