Mehrsprachig aufgewachsen machte der 1988 in Frankfurt am Main geborene Autor und Journalist Mohamed Amjahid bisher unter anderem Station bei der taz, dem Tagesspiegel, den Kulturwellen der ARD und Al Jazeera. Bis Dezember 2017 war er Reporter und Redakteur beim ZEITmagazin in Berlin. Im Januar wechselte Amjahid in das Ressort Politik der ZEIT.
Herr Amjahid, Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch mit dem Titel „Unter Weißen. Was es heißt privilegiert zu sein“ veröffentlicht. Was heißt es denn?
Privilegien können vielfältig sein. Nehmen Sie das Thema Mobilität. Wenn Sie einen roten europäischen Pass besitzen, müssen Sie sich keine Gedanken über den Wechsel ihres Arbeitsplatzes oder eine Urlaubsreise ins Ausland machen. Ohne einen solchen roten Pass endet der Lebens-, Arbeits- und Urlaubshorizont an den Grenzen des Geburtslandes. Nicht alle mit einem roten Pass sind weiß, aber fast alle Europäer mit weißer Hautfarbe haben einen roten Pass. An die weiße Hautfarbe wurden mit der Zeit immer mehr Privilegien geknüpft. Wir beide führen hier am Bahnhof in Hamburg das Interview. Achten die Polizisten auf Sie, eine Frau mit weißer Hautfarbe, oder auf mich, ein junger Mann mit nicht-weißer Hautfarbe? Racial profiling beeinflusst selbstverständlich meinen Alltag und den aller erkennbar Nicht-Biodeutschen. Ebenfalls historisch gewachsen fallen bis heute die wichtigsten Entscheidungen in Deutschland und in Europa in männlich dominierten Gremien und Zirkeln. So gesehen ist es in weiteres Privileg ein Mann zu sein. Und diese Reihe könnte weiter fortsetzet werden. Im Übrigen ist es das größte Privileg, dass die Privilegierten ihre Privilegien gar nicht mehr bewusst wahrnehmen, weil sie so selbstverständlich erscheinen.
Wie würden Sie Ihre Lebenssituation unterm Strich beschreiben?
Als Reporter der größten deutschen Wochenzeitung, als Autor und als Kurator von Europa21 bin ich ein überaus privilegierter Mensch. Allerdings habe ich meine Privilegien als Sohn marokkanischer Migranten nicht ererbt, sondern hart erarbeitet.
Welchen Einfluss hatten oder haben diese Erfahrungen auf ihren beruflichen Werdegang?
Als Kind wuchs ich in Deutschland und Marokko auf. Die krassen Unterschiede zwischen den Lebensumständen in den beiden Ländern haben mich schon als Jugendlichen politisiert. Ich wollte verstehen, warum die Ressourcen und Freiheiten so ungerecht verteilt sind. Gleichzeitig liebe ich es zu schreiben, mir Gedanken in möglichst unterhaltsamen Texten zu machen. Was liegt da näher als Artikel und Bücher zur politischen Entwicklung in Nordafrika, dem Nahen Osten und Europa zu schreiben?
Sie beschreiben im Buch Ihre Sicht auf Deutschland. Sind die Privilegien innerhalb Europas nicht sehr unterschiedlich verteilt?
Sicher! Neben gemeinsamen Privilegien, gibt es viele Unterschiede, die von den regionalen Geschichtsverläufen und Erfahrungen abhängen. Die Andersmachung von Minderheiten, Migranten oder Flüchtlingen nimmt zum Beispiel europaweit zu, hat aber in Ländern mit großer und langer Kolonialgeschichte wie etwa Frankreich eine andere, viel massivere Ausprägung als zum Beispiel in Ungarn und selbst unter jemandem wie Viktor Orbán. Ich bin deshalb ein Fan davon, alles auch in einem regionalen Kontext zu betrachten.
Sie sind in diesem Jahr der Kurator des Programmschwerpunkts Europa21 der Robert Bosch Stiftung und der Leipziger Buchmesse. Was hat Sie an der Aufgabe gereizt?
Als politischer Reporter bin ich viel unterwegs und treffe Menschen, die oft ganz andere Meinungen oder Perspektiven haben als ich. Es ist ein großes Privileg, ein Programm zu gestalten, indem die Vielfalt der europäischen Stimmen in ein echtes, aber konstruktives Streitgespräch zur Sprache kommen, einen Austausch über Europa ermöglicht, der frei von politischen Zwängen ist, von nationalen Egoismen und vor allem von europäischer Überheblichkeit. Denn wir hören uns im Regelfall in Europa zu wenig zu und setzen uns noch weniger miteinander ernsthaft auseinander. Zur Leipziger Buchmesse können wir alle Europa21 gemeinsam mit unseren internationalen Gästen als Denk-Raum für die Gesellschaft von morgen nutzen, konstruktiv über die verschiedenen Interpretationen der Vergangenheit und die unterschiedlichen Visionen für die Zukunft streiten.
Wie werden Sie im Unterschied zu ihren beiden Vorgängerinnen den Denk-Raum gestalten?
Die diesjährige dritte und letzte Auflage des Programms Europa21 sehe ich als Fortsetzung der Arbeit meiner beiden Vorgängerinnen Insa Wilke und Esra Kücük. Aufbauend auf der Frage nach dem Wir in Europa vom letzten Jahr, möchte ich gemeinsam mit den Teilnehmern und den Gästen der Leipziger Buchmesse diskutieren, ob wir in Europa wirklich die besten sind und unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft weltweit exportieren sollten. Ich setze in der Auswahl der Streitenden stärker auf gegensätzliche Meinungen, auf die Vielfalt der europäischen Stimmen. Auf das Künstlerduo Various & Gould und ihre plakative Auseinandersetzung mit Identität und Klischees freue ich mich besonders. Dank der Plakate Identikits können wir auch die Leipziger und ihre Gäste im Stadtraum in den Denk-Raum miteinbeziehen und hoffentlich zum Nachdenken anregen. Ich bin sehr gespannt auf die kommenden Messetage und freue mich sehr auf den Austausch.
Interview: Ruth Justen
Fotos Mohamed Amjahid: Götz Schleser
Identikits: Various & Gould