Fotos: Tom Schulze
Es ist der 21. Tag von Putins Angriffskrieg. Als in den öffentlichen Raum verlegtes wöchentliches Friedensgebet der Nikolai-Gemeinde hat die Veranstaltung begonnen, mit Psalmen und Gesängen. Während der Posaunenchor, der gerade noch ein „Dona nobis pacem“ begleitet hat, seine Instrumente verstaut, zeigt die große Videoleinwand vor dem Gemeindehaus einen bärtigen Mann, der spürbar um Fassung ringt und das verschmitzt-ironisches Lächeln, das man eigentlich von ihm kennt. Juri Andruchowytsch, der berühmteste Schriftsteller der Ukraine, hat in seiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk eine Videobotschaft für uns aufgenommen. Eingespielt wird sie auf einer gemeinsam von der Stadt Leipzig, der Leipziger Messe, dem Börsenverein und der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde St. Nikolai organisierten Friedensaktion, kurz vor der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung, den Andruchowytsch selbst 2006 erhalten hat.
Auf der Leinwand führt der Autor das Publikum durch die leeren Räume des von ihm mitbegründeten Kulturzentrums VAGABONDO: „Europa hat sich endlich für die Ukraine geöffnet – jedenfalls an den Grenzen, für Flüchtlinge. Zumindest das bisher. Aber die massenhaft blau-gelben Dekorationen genügen uns nicht mehr. Die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, die Standing Ovations und die Kundgebungen.“ Das alles sei rührend und wunderbar, aber es genüge nicht mehr, angesichts der Hölle, in der sich ein friedliches Volk befindet. Andruchowytsch fordert die vollwertige EU-Mitgliedschaft der Ukraine. „Sie brauchen uns, um viel größer, mutiger und stärker zu sein.“
Noch am 9. Oktober letzten Jahres stand der Leipziger Oberbürgermeister mit seinem Kiewer Kollegen Vitali Klitschko auf dem Nikolaikirchhof; Klitschko hielt am Leipziger Großfeiertag die traditionelle „Rede zur Demokratie“ in der Nikolaikirche. Nun erinnert Sebastian Feydt, der Pfarrer der Nikolaikirche, an die „Keine Gewalt!“-Rufe, die im Herbst 89 über den Kirchhof echoten. „Damals rollten keine russischen Panzer“, sagt Feydt. „Was das für ein historisches Geschenk war, wird mir erst heute bewusst – und welche Verpflichtung dieses Geschenk ist.“
„Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs. Nicht mehr. Eher weniger“, hielt die Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, in Anlehnung an Walter Benjamin, einmal gelassen fest. Das ist überraschend uneitel im an Eitelkeiten nicht eben armen Literaturbetrieb. Die Laudatio, die die Wienerin ihrem Salzburger Kollegen Karl-Markus Gauß hält, ist selbst ein geschliffenes Stück Literatur. Strigl hakt sich an Gauß’ preisgekröntem Buch „Die unaufhörliche Wanderung“ fest – ein Titel, der auch den Existenzmodus seines Autors fasst. „Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer“, sagt Strigl – und nimmt in ihrer Lobrede den „symbolischen Rucksack“ des Kollegen in Augenschein, seine „Siebensachen“, mit deren Hilfe er zuverlässig seinen Bestimmungsort erreicht. Der Weg ist das Ziel, oder, wie Heimito von Doderer deutlich weniger verblasen formulierte: „Umwege erhöhen die Ortskenntnisse.“
Karl-Markus Gauß ist um den Job des Dankredners an diesem Abend nicht zu beneiden. Schließlich tritt er in Zeiten vor sein Publikum, da praktisch jeder Tag den Redenentwurf des Vortags zunichtemacht. „Kein Prophet, auch keiner, der auf den heutigen Namen Experte hört, hat vor einigen Wochen vorausgesehen, was sich doch, wie wir heute einräumen, seit Jahren angekündigt hat.“ Paukenschlag Nummer eins: Die neuerliche Buchmesse-Absage. Gauß kritisierte die Zögerlichkeit von Teilen der Branche: „Wer es der Buchhaltung, so wichtig sie ist, überlässt, über Bücher, Buchmessen, Feste der Literatur und derer, die ihr Leben mit ihr verbunden haben, zu entscheiden, der wird eines Tages jenem Produkt den gesellschaftlichen Wert genommen haben, mit dem er doch seine besten Geschäfte gemacht hat.“ Ein hochrangig besetztes Zukunftsgespräch zur Leipziger Buchmesse, noch im März zustande gekommen auf Initiative von Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, hat auch solche Warnungen im Blick gehabt; Bund, Land und Kommune haben sich mit der Branche untergehakt und für die Leipziger Buchmesse Flagge gezeigt.
An jenem denkwürdigen Abend in der Leipziger Nikolaikirche geißelt Gauß, ein trittsicherer Wanderer mit festem Schuhwerk, Putins Angriffskrieg nicht zuletzt als „militärische Sonderoperation“ gegen die Sprache selbst – mit dem Ziel, „aus der Lüge eine staatsbürgerliche Pflicht zu machen“. Karl-Markus Gauß entlässt das auf harten Kirchenbänken ausharrende Publikum immerhin mit der Hoffnung auf Verständigung – zumindest zwischen denen, „die auf der einen Seite aufbegehren, um keine Täter zu werden, und denen, die auf der anderen Seite nicht Opfer bleiben wollen“. Und mit dem beinahe utopischen Bild von einer Leipziger Buchmesse 2023 als Brücke zum Osten. Einer Buchmesse, auf der „russische Autorinnen, die nicht trauern, weil ihr Despot den Krieg verloren hat, und ukrainische Autoren, die nicht jubeln, weil Russland selbst aus der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verstoßen wurde, mit uns über Europa reden. Und über anderes mehr.“