Autor: Nils Kahlefendt

© Jürgen Bauer

„Sie schreiben alle“
25. Februar 2022
Die Literaturvermittlerin Katharina Raabe über ‚ihre’ Autoren im Kriegsgebiet und Solidaritäts-Aktionen in Deutschland
Autor: Nils Kahlefendt

© Jürgen Bauer

„Sie schreiben alle“
25. Februar 2022
Die Literaturvermittlerin Katharina Raabe über ‚ihre’ Autoren im Kriegsgebiet und Solidaritäts-Aktionen in Deutschland

Katharina Raabe hat Autoren wie Juri Andruchowytsch, Joanna Bator, Katja Petrowskaja oder Andrzej Stasiuk hierzulande einem großen Publikum bekannt gemacht und viele Übersetzungen aus Osteuropa angeregt. Seit 2000 kümmert sich die Lektorin und Literaturvermittlerin für Suhrkamp um den Aufbau des osteuropäischen Programms. Wir erreichen Sie in ihrem Charlottenburger Ladenbüro an Tag zwei des in der Ukraine ausgebrochenen Kriegs.

Frau Raabe, wissen Sie, wie es „Ihren“ Autorinnen und Autoren im Kriegsgebiet gerade geht?

Katharina Raabe: Sie werden überrannt von Anfragen, die sie kaum meistern können. Sie schreiben alle. Serhij Zhadan ist im Osten, in Charkiw, er hat für die „Zeit“ eine kurze Reportage geschrieben. Und Kateryna Mishchenko sitzt mit ihrem kleinen Jungen und ihrem Mann direkt am Regierungsviertel in Kiew, ich erreiche sie jetzt gerade nicht. Gestern haben wir noch via FaceTime telefoniert, sie musste das Gespräch dann abbrechen, auch Kiew wird ja jetzt beschossen. Aber auch sie versucht zu schreiben.

Sie selbst haben vermutlich auch alle Hände voll zu tun?

Raabe: Wir bereiten bei Suhrkamp ein neues Buch mit Juri Andruchowytsch vor, der in Iwano-Frankiwsk lebt… dort ist der Flughafen bombardiert worden. Für den morgigen Samstag haben wir im Gorki-Theater spontan eine Solidaritätsveranstaltung organisiert: Berliner Autorinnen und Autoren lesen Texte von ihren ukrainischen, belarussischen und russischen Kollegen. Viele, viele haben spontan zugesagt, ohne Honorare, ohne Verträge: Das reicht von Hertha Müller und Durs Grünbein bis Julia Franck… Deniz Yücel wird aus dem gestern begonnen Tagebuch seines Journalistenkollegen Juri Durkot lesen, der in Lemberg wohnt. Johannes Kirsten, der Dramaturg, hat das ganz schnell eingeschoben, innerhalb einer Stunde hatten wir alle Zusagen beisammen – so etwas funktioniert wahrscheinlich nur zwei Tage, nachdem ein Krieg in Europa ausgebrochen ist. In dieser Art entstehen gerade ganz viele Aktionen, quer durch Deutschland. Und natürlich wollen alle gern ukrainische Autoren einladen. Inzwischen wurde jedoch die Generalmobilmachung erklärt, Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht mehr verlassen.

Wer hier in der warmen Stube vor Fernseher, Radio oder Notebook sitzt, fühlt sich eher ohnmächtig und glaubt, nichts tun zu können…

Raabe: Man kann sehr viel tun. Im Grunde geht es darum, dass alle Berufsgruppen ihre Netzwerke aktivieren und verstärken. Und sich darauf vorbereiten, dass wir vielen Menschen sehr schnell werden helfen müssen. Wenn es so kommt wie befürchtet und Russland die ukrainische Regierung durch ein Marionetten-Regime ersetzt, dann wird der Terror um sich greifen. Dann werden die Menschen, die wir gut kennen – Intellektuelle, Schriftsteller, sichtbare Oppositionelle, in großer Gefahr sein. Für sie müssen sehr schnell Orte gefunden werden – das geht von ganz handfesten Unterkünften bis zu Arbeitsmöglichkeiten an Unis, Akademien, Instituten. Es muss sehr schnell eine Infrastruktur geschaffen werden.

Wir haben uns im März in schöner Regelmäßigkeit auf der Leipziger Buchmesse in der Nähe des „Café Europa“ getroffen. Wie sehr vermissen Sie es, gerade in dieser Zeit?

Raabe: Die Messe in Leipzig stand immer auch für die Sichtbarkeit der Ukraine. Denken Sie an Martin Pollak und den von ihm ab 2012 kuratierten „tranzyt“-Schwerpunkt mit Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus. Denken Sie an Jury Andruchowytsch, der 2006 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Leipzig ist der Ort, um all diese Literaturen sichtbar zu machen! Umso schöner, dass nun doch eine ganze Menge stattfinden kann…

Sie organisieren am 17. März mit Suhrkamp einen langen Abend an der Leipziger Stadtbibliothek…

Raabe: Richtig. In diesem Rahmen werde ich die ungarische Autorin Andrea Tompa (*1971) vorstellen. Sie stammt aus dem rumänischen Klausenburg und hat mit „Omertà“ einen grandiosen, von Terézia Mora übersetzten Roman vorgelegt. In der Stadtbibliothek wird auch die 1981 in Minsk geborene, schon lange in den USA lebende Lyrikerin Valzhyna Mort auftreten, sie hat gerade ein Stipendium in Italien. Beide Autorinnen sind auch bei „Geschichten von Frauen“, einer von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten Veranstaltung im Leipziger Literaturhaus am 18. März dabei. Da sich aber unter dem Druck der Ereignisse jetzt sehr viele Leute verbinden, können quasi stündlich neue Termine und Aktionen dazukommen.

Sprachlos die Sprache verteidigen. Lesen für die Ukraine

Gorki Theater Berlin. Samstag, 26.2.2022, 16 Uhr. Die Veranstaltung wird gestreamt.

Youtube Livestream

Website

Suhrkamp Verlagsabend mit Magdalena Schrefel, Simone Buchholz, Philipp Ther, Andrea Tompa, Valzhyna Mort, Heike Geißler, Yannic Han Biao Federer und Emine Sevgi Özdamar | Stadtbibliothek | 17. März, 18 Uhr

Geschichten von Frauen – Gespräche über Emanzipation mit Lana Bastašić, Alida Bremer, Nino Haratischwili, Terezia Mora, Valzhyna Mort, Katerina Poladjan, Andrea Tompa und Lea Ypi | Literaturhaus Leipzig | 18. März, 15 Uhr

Bücher aus der und über die Ukraine im Programm des Suhrkamp-Verlags: mehr erfahren

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