Wahnsinn! Ein Wort, das Kerstin Heydecke ziemlich oft hört, als sie, im wilden Wendejahr 1990, aus der Altmark zum Studium nach Leipzig kommt. Aus den letzten großen Ferien im Sommer 1989 sind längst nicht alle Klassenkameraden zurückgekommen; die Ausreisewelle rollt. Nun, die ersten freien Wahlen der DDR waren bereits Geschichte, melden sich die Bedenkenträger: Russisch und Englisch auf Lehramt, ob sie sich das nicht noch mal überlegen wolle? Jetzt, wo ihr doch alle Möglichkeiten offen stünden? Heydecke bleibt bei der Fachkombination. Auch wenn sich das Pendel ihrer Sprachbegeisterung nach einem Jahr Auslandsstudium in Manchester neu justiert, liebt sie das Russische bis heute. Nach dem Examen macht es die inzwischen fast exotisch anmutende Fach-Kombination nicht eben leichter, eine der raren Referendarstellen zu ergattern. Sie geht als Honorar-Dozentin in die freie Wirtschaft, lehrt Businessenglisch, unabdingbar für die, die im neuen System durchstarten wollen.
Aufbruchzeit im Bildungssektor
Heydecke selbst kann nach vier Jahren ihr 2. Staatsexamen ablegen, bringt 2000 ihre große Tochter zur Welt und tritt die erste Lehrerstelle an, die eigentliche eine doppelte ist: Zwei Tage die Woche leitet sie eine zehnte Klasse im Leipziger Klinger-Gymnasium, die restlichen drei unterrichtet sie an der Krankenhausschule in Dösen – ganz ohne sonderpädagogische Ausbildung. Die Jobs enden mitten im Schuljahr, damals sind Pädagogen noch keine besonders umworbene Klientel. „Man war eine Figur auf dem Schachbrett“, erinnert sich Heydecke. Nach einem erneuten Intermezzo als Englisch-Dozentin und dem zweiten Kind findet sie 2007 endlich den Traumjob: Das Europäische Bildungswerk für Beruf und Gesellschaft, ein freier Bildungsträger, sucht eine Schulleiterin. Am Standort Leipzig werden Erzieher*innen, Altenpfleger*innen und Sozialassistent*innen ausgebildet. Eine Herausforderung, die Heydecke persönlich als „große Aufbruchzeit“ mit enormem Handlungsspielraum erlebt: „Anders als viele öffentliche Schulen standen wir in einem starken Wettbewerbsumfeld, mussten mit selbst verwaltetem Budget Schüler akquirieren und Kooperationspartner suchen.“
An Rückschlägen wachsen
12 Jahre füllt Kerstin Heydecke die Stelle aus, bis sie, inzwischen Mitte 40, es noch einmal wissen will. Der Wechsel zur Rahn Education Gruppe, einem mittelständischen Unternehmen mit etwa 730 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an 35 Bildungsstätten in den neuen Bundesländern, Polen und Ägypten, scheint ein verlockender Karriereschritt. Doch als Leiterin Bildungsmanagement und Mitglied der Geschäftsleitung zieht Heydecke nach vier Monaten die Reißleine. „Ich kann mit Druck umgehen“, sagt sie rückblickend, „aber das war einfach zu viel des Guten.“ Häufig erlebt man eine Berufslaufbahn als Erfolgskurve, in der Rückschläge nicht vorgesehen sind. Hat Heydecke an sich gezweifelt? „Rein rational konnte ich das Geschehene für mich gut verarbeiten“, erinnert sie sich. „Es waren die Umstände, ich konnte das gar nicht stemmen, ohne mich zu verbiegen. Aber ich habe es zweitweise schon als Scheitern wahrgenommen.“
„Sie haben den Job!“
Kerstin Heydecke steigt vom Hamsterrad, will diesmal in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll. Eines scheint ihr klar, sie möchte im Bildungsbereich bleiben, vielleicht sogar fest an ein Gymnasium gehen – Lehrerinnen, noch dazu solche mit Führungserfahrung, werden, anders als in den 90ern, inzwischen mit Kusshand eingestellt. In diesem Augenblick entdeckt ihr Lebenspartner die Ausschreibung der Leipziger Messe und leitet sie weiter – die Teamleitung Messemanagement der Leipziger Buchmesse ist neu zu besetzen. Heydecke zögert; es fällt ihr schwer, sich mit ihrer Berufsbiografie hier ‚gemeint’ zu fühlen. Es ist ihr Mann, der das Eis bricht: „Personal führen? Du machst seit 12 Jahren nichts anderes, als ein Team zu leiten! Budgetverantwortung? Kannst du! Du kannst super mit Menschen umgehen, bist strukturiert, hast keine Angst vor neuen Aufgaben. Und du liebst Bücher! Also – versuch’s doch!“ Einige gespannte Wochen und zwei ausführliche Gespräche später dann das befreiende Läuten des Telefons: „Sie haben den Job!“
Neue Führungsebene
Zur Leipziger Buchmesse im März 2019 ist Kerstin Heydecke bereits an Bord, offiziell ist ihr erster Arbeitstag der 1. April. Dass das Messegeschäft eine „wahnsinnig komplexe Aufgabe“ ist, war ihr natürlich klar. Nun erlebt sie es live, Tag für Tag. Das Team gibt ihr die nötige Zeit, hineinzuwachsen. „Ich habe noch nie eine so gute Einarbeitung erlebt. Man holt mich schrittweise in die Verantwortung, lässt mir Luft zum Atmen. Das ist großartig.“ An der Ausgestaltung des neuen Stellenprofils wurde lange getüftelt. Heydecke führt die inneren Prozesse, hat Budget und Projekt-Controlling auf dem Tisch, fungiert als Schnittstelle zu den Fachabteilungen im Haus, wird sich künftig um das Thema Sponsorengewinnung kümmern – und beackert die Segmente ‚Bildung’ (zusammen mit Michiko Wemmje) und ‚Logistik’ (mit Elisabeth Buschmann-Berthold). Klingt das nicht schon wieder nach einem 48-Stunden-Tag? Kerstin Heydecke hebt die Arme und lacht. Der Job ist anspruchsvoll, das schon. Aber das Team macht es ihr leicht. „Alle sind hier unglaublich motiviert, kein Wunder, dass der Funke bei mir im Nu übersprang. Es ist toll zu sehen, wie hier ganz unterschiedliche Charaktere, alle Profis auf ihrem Gebiet, an einem Strang ziehen.“ Geschenkt wird einem nichts; Heydecke musste gleich in den ersten Wochen „ins kalte Wasser“, wie sie es nennt: Die Abrechnung des gelaufenen Messejahrgangs und die Budget-Planungen für 2020 standen auf dem Zettel.
Frischer Wind im Team
Ausgleich findet Kerstin Heydecke bei „Sonntagskind“, einem Chor von rund 25 Frauen, die sich seit 2015 sonntags in der Lindenauer Helmholtz-Schule zum Singen treffen – und pro Jahr auch eine Handvoll Konzerte geben. Wie die Buchbranche, dieses sehr spezielle Völkchen, tickt, weiß Heydecke noch nicht letztinstanzlich. Aber werden da nicht auch alte Hasen immer wieder vor neue Rätsel gestellt? Mit unbestechlichem Blick sorgt Heydecke für frischen Wind im Team. Sätze wie ‚Das haben wir schon immer so gemacht’ wird sie, respektvoll und doch punktgenau, hinterfragen – auch dafür ist sie geholt worden. Sie hat jour fixes etwa mit Projekt-Assistentinnen und Praktikantinnen eingeführt, damit „die Teamrunden nicht explodieren“. Auch der turnusmäßige „Weckruf“ montags und freitags ist neu, ein kurzes morning briefing zu den wichtigsten Fragen: Was hat jeder auf dem Tisch, gibt es Probleme? „Wenn man überlegt, wie viel Zeit man hier verbringt, ist so etwas wie die Kultur am Arbeitsplatz immens wichtig.“ Es scheint ganz so, als ob Kerstin Heydecke angekommen ist in ihrem neuen Traumjob. Jetzt, wo ihre Große, eben 19 geworden, für ein Jahr work & travel nach Japan geht, ist im freiwerdenden Zimmer ein neues Bücherregal aufgestellt worden. Es ist, soviel sei verraten, ziemlich groß.
Kerstin Heydecke ist in einer Lehrerfamilie in der Altmark aufgewachsen. Von 1990 bis 1996 absolvierte sie ein Lehramtsstudium in der Fachkombination Englisch/Russisch für Gymnasien an der Universität Leipzig. Bereits vor dem 2. Staatsexamen arbeitete sie als Honorardozentin für Englisch in der freien Wirtschaft, 2007 übernahm sie die Leitung des Fach- und Berufsfachschulzentrums des Europäischen Bildungswerks für Beruf und Gesellschaft (EGB). Nach einem Wechsel als Leiterin Bildungsmanagement bei der Rahn Education Gruppe kam Heydecke im April 2019 zur Leipziger Buchmesse, wo sie seitdem die Leitung des Messemanagements innehat. Kerstin Heydecke ist Mutter zweier Kinder und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.