Sie sind Lektorin für phantastische Literatur – das wird einem nicht in die Wiege gelegt?
Hanka Leo: Ich komme aus einer Familie mit bildenden Künstlern, habe selbst eine musische Ausbildung erhalten und nach dem Abitur an einem Kinder- und Jugendtheater gearbeitet. Es war also früh klar, dass ich mit Kunst arbeiten möchte. Dann habe ich vom Beruf der Lektorin gehört; man raunte etwas von der „Königsdisziplin“ für Germanistinnen …
Stimmt, viele drängen in die Lektorate.
Leo: Lektorat ist Besserwissen für Fortgeschrittene. Also perfekt für mich! Dafür wurde angeraten, etwas Sprachliches zu studieren, was ich ursprünglich gar nicht vorhatte. Sechs Jahre später war ich freie Lektorin und mittlerweile betreue ich einige der namhaften Autorinnen und Autoren des phantastischen Genres.
Und das bereits mit der Spezialisierung auf phantastische Literatur?
Leo: An der Uni spielte das keine Rolle, es hat mich privat interessiert. Ich habe dann meine Magisterarbeit über das Werk von Kai Meyer geschrieben und ihn in diesem Zusammenhang für ein Interview kontaktiert. Später habe ich ihm die fertige Arbeit geschickt – was dazu führte, dass er mir einen seiner Romane fürs Lektorat anvertraut hat.
Ein Einstieg nach Maß …
Leo: Danach lief es wie von selbst. Und das Schöne ist: Ich arbeite noch immer mit Kai Meyer zusammen.
Bei der Phantastischen Akademie lösen Sie zusammen mit dem Autor Christoph Hardebusch die Gründungsvorsitzenden Oliver Graute und Natalja Schmidt ab. Damit geht nach dreizehn Jahren so etwas wie eine Ära zu Ende – haben Sie Lampenfieber vor der neuen Aufgabe?
Leo: Ich habe Respekt, absolut. Aber es ist ja auch gut, wenn man eine Herausforderung außerhalb der eigenen Komfort-Zone annimmt.
Sie wollen die Abläufe rund um den von der Akademie verliehenen Seraph „transparenter und nahbarer“ gestalten – was heißt das?
Leo: Ich möchte klarstellen, dass wir den in drei Kategorien ausgeschriebenen Preis zwar übergeben, aber nicht darüber entscheiden, wer ihn bekommt. Es läuft ein Auswahlverfahren über zwei Etappen: Nach einer Leserunde, die eine Vorauswahl aus etwa zweihundert Einsendungen trifft, entscheiden insgesamt 21 Jurorinnen und Juroren, die allesamt Expertise und einen fachlichen Blick auf die Phantastik-Szene mitbringen, über die Gewinntitel.
Wie hat sich das Standing des Preises seit dem Start 2011 entwickelt?
Leo: Anfangs gab es nur zwei Kategorien – das Beste Debüt und das Beste Buch, wobei der Fokus immer auf dem Debüt-Preis für die Nachwuchsförderung lag. 2018 ist der Beste Independent-Titel dazugekommen. Eigentlich hatte die Akademie den 2016 nur einmalig ausloben wollen, damals in Kooperation mit Neobooks, einem Selfpublishing-Imprint von Droemer Knaur. Das ist so gut angekommen, dass man zwei Jahre später beschlossen hat, die Kategorie regulär aufzunehmen. Es ist erstaunlich, wie sich das Selfpublishing-Segment seither entwickelt hat: Heute sind viele dieser Titel nicht mehr von klassischen Verlags-Produktionen zu unterscheiden.
Der Seraph soll bereits für die nominierten Titel als eine Art Qualitätssiegel wirken.
Hanka Leo, Phantastische Akademie
Das Motto der Phantastische Akademie war von Anfang an „Fördern und Feiern“, und genau das ist es geblieben: Wir wollen eine größere Sichtbarkeit für Phantastik etablieren; der Preis soll bereits für die nominierten Titel als eine Art Qualitätssiegel wirken. Auf der anderen Seite geht es uns um eine möglichst schöne Preisverleihung – auf großer Bühne.
Was macht für Sie als Lektorin einen guten phantastischen Roman aus?
Leo: Wir sprechen ja in vielen Fällen von Unterhaltungsliteratur, insofern ist die Antwort auf die Frage: Unterhält mich der Roman? ein wichtiges Qualitätsmerkmal. Also: Ist er spannend? Und, nicht zu vergessen: Ist er schlüssig?
Selbst in der Phantastik muss es schlüssig sein?
Leo: Gerade da!
Die erdachte Welt muss in sich stimmig sein?
Leo: Genau. Ein Magie-System muss funktionieren. Das ist wie in jeder Literatur: Wenn man mit der Logik bricht, ergibt alles keinen Sinn. Eine überraschende, spannende Handlung schadet nicht – auch da unterscheidet sich die Phantastik nicht von anderen Genres. Und wenn dann noch jemand mit einer tollen Sprache, die zur Geschichte passt, um die Ecke kommt – dann ist es eventuell Kai Meyer (lacht).
Wie hat sich das Genre im deutschsprachigen Raum aus Ihrer Sicht in den letzten Jahren entwickelt?
Leo: Wenn man nur auf die Bestsellerlisten schaut: Vor rund zwanzig Jahren war Völker-Fantasy das große Ding: Zwerge, Orks, Elfen hatten einen riesigen Run. Das war etwa zu der Zeit, als die „Herr der Ringe“-Verfilmungen in die Kinos kamen. Einige der Autoren sind auch heute noch gut dabei: Markus Heitz etwa oder Bernhard Hennen. Inzwischen sehen wir auf den Bestsellerlisten viel Romantasy – verbunden mit mehr Autorinnen und einem gewachsenen weiblichen Lesepublikum.
Sind das dann die Bücher, die auch visuell und haptisch sehr aufwändig produziert sind? Ich sage nur: Farbschnitt.
Leo: Ja, das ist sehr beliebt zurzeit. Jedenfalls, zwischen diesen beiden Trend-Punkten liegen an die zwanzig Jahre Entwicklung. Vor der Völker-Fantasy war die Menge an deutschsprachiger Phantastik überschaubar. Da gab es Wolfgang Holbein – und dann lange Zeit gar nichts. Dazu noch US-amerikanische Importe, etwa bei Sci-Fi und Horror. Dann kam Anfang der 2000er die deutschsprachige Phantastik so richtig ins Rennen – und mittlerweile, finde ich, ist sie weit aufgefächert: Wir haben sehr gute Science Fiction, gerade im Selfpublishing-Segment erfolgreich, auch Near-Future-Fiction, die gesellschaftliche Verhältnisse einer näheren Zukunft ausleuchtet. Wir haben einen starken Horrorbereich, der sich bisher eher bei kleineren Verlagen abspielte, aber stetig wächst. Es gibt progressive Phantastik, die sich ganz klar politisch positioniert, und Cosy Fantasy, die um einiges unblutiger daherkommt. Kurz, es ist mittlerweile sehr, sehr viel möglich. Mit dem Seraph versuchen wir, die Leute zu animieren, diese Sachen in ihrer ganzen Vielfalt einzureichen, nicht nur die Bestseller. Unsere Nominierten-Liste hat im besten Fall Andockpunkte in viele Richtungen.
Im klassischen Literaturbetrieb nimmt phantastische Literatur noch immer eine eher randständige Rolle ein. Und wenn man schaut, wie oft Fantasy auf den Listen des Deutschen Buchpreises auftaucht …
Leo: … ist man schnell fertig.
Haben Sie eine Erklärung für das Fremdeln?
Leo: Ich glaube, es kommt aus der Geschichte der Phantastik. In Deutschland gab es eine Hochzeit in den 1920ern, 1930ern, da erschienen Klassiker wie „Alraune“ von Hanns-Heinz Ewers, „Die andere Seite“ von Alfred Kubin oder „Der Golem“ von Gustav Meyrink. Das brach komplett ab mit dem Ende der NS-Diktatur, da diese die Phantastik braun einfärbte; dann war jahrzehntelang Ruhe – bis ab den 1960ern das Genre im Kinder- und Jugendbuch sowie in erfolgreichen Heftroman-Reihen wie Perry Rhodan oder John Sinclair wieder aufkam.
Die der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften wohl eher nicht gefielen …
Es gibt großartige phantastische Romane, die sprachlich in einer ganz eigenen Liga spielen.
Hanka Leo, Lektorin
Leo: Der Groschenroman hat das Schmuddelecken-Problem bis heute. Und es zeugt schlicht von Desinteresse, wenn man die darin behandelten Genres darauf reduziert. Inzwischen gibt es großartige Autoren und Autorinnen, die sprachlich in einer ganz eigenen Liga spielen. Dazu werden phantastische Romane in Verlagen veröffentlicht, die gar nicht auf Phantastik spezialisiert sind – und die Bücher nicht unter diesem Label verkaufen. „Schatten des Windes“ etwa, von Carlos Ruiz Zafón (Suhrkamp), wurde weltweit rund 15 Millionen Mal verkauft.
Hannes Riffel, Verleger des neuen Carcosa Verlags, spricht gern von „phantastischer Weltliteratur“ – dort erscheinen Ursula K. Le Guin oder Alan Moore.
Leo: Mit diesen beiden kann man wirklich nichts falsch machen.
Abschließend gefragt: Wo sehen Sie die Zukunft des Seraph?
Leo: So wie sich die phantastische Literatur stetig wandelt, bekommt auch der Preis neue Impulse. Wir werden also nicht stehen bleiben.
Hanka Leo ist in Cottbus aufgewachsen, wo sie während und nach ihrem Abitur am Piccolo Theater arbeitete. Von 2004 bis 2010 studierte sie Germanistik und Geschichte in Dresden. Seitdem ist sie als freie Lektorin tätig, unter anderem für Autorinnen und Autoren wie Kai Meyer, Markus Heitz oder Theresa Hannig; auf ihrer Verlags-Kundenliste stehen beispielsweise Droemer Knaur, Piper, Fischer Tor und Audible. Seit 2013 ist sie Mitglied im Verband Freier Lektorinnen und Lektoren (VFLL), seit 2019 Schriftführerin der Phantastischen Akademie. Seit Herbst 2024 ist sie 1. Vorsitzende der Phantastischen Akademie, der Autor Christoph Hardebusch wurde zum 2. Vorsitzenden gewählt. www.lektographem.de
Der Seraph ist ein Literaturpreis, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die besten deutschsprachigen Romane des Phantastik-Genres zu prämieren.
Seit 2012 wird der Seraph jährlich von der Phantastischen Akademie im Rahmen und in Kooperation mit der Leipziger Buchmesse verliehen. Der dotierte Preis wird in den Kategorien Bester Roman, Bestes Debütund Bester Independent-Titel vergeben.
Die drei Kategorien sind im kommenden Jahr mit 7000 Euro für das Beste Debüt und jeweils 6000 Euro für das Beste Buch und den Besten Independent-Titel dotiert. Dies ist dank der Fördermitglieder und dem erfolgreichen Twitch-Spenden-Stream der Autorin Liza Grimm möglich.
Der Name Seraph entstammt der judäo-christlichen Mythologie und bezeichnet die oberste Hierarchieebene unter den Engeln. Seraphim werden meist mit drei Flügelpaaren dargestellt. Für die Phantastische Akademie symbolisieren sie die drei großen Untergenres der Phantastik: Science-Fiction-, Fantasy- und Horror-Literatur.
Einsendeschluss für den Seraph 2025 ist der 15. Dezember 2024; die Nominiertenliste wird in der zweiten Januarhälfte bekanntgegeben. Die Verleihung erfolgt auf der Großen Bühne der Leipziger Buchmesse in Halle 3 am Freitag, 28. März um 16 Uhr. Auch in diesem Jahr wird es darüber hinaus im Anschluss an die Preisverleihung die Lange Nacht der Phantastik im Kulturzentrum Ankergeben, bei der die Gewinntitel vorgestellt werden.