Politikergrußworte zu festlichen Anlässen sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Manchmal, in seltenen Momenten, gelingt es, uns in dieser Disziplin zu überraschen. Vor zwei Jahren schaffte es der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen, heuer verzauberte uns zu vorgerückter Stunde Lubna Jaffery, Ministerin für Kultur und Gleichstellung des Königreichs Norwegen – mit einer ausgesprochen poetischen Rede und einer ungewöhnlichen Herleitung des Gastland-Mottos „Traum im Frühling“. Jaffery ist in Bergen aufgewachsen, der regenreichsten Stadt Europas, als Tochter pakistanischer Einwanderer – und mit dem Gefühl, dass sich die Welt öffnet, Mauern eingerissen werden. Mit ihrer Schulklasse besuchte sie das Berliner Stasi-Museum, und wurde magisch angezogen von einem Foto, aufgenommen 1987 in Berlin-Pankow: „Es zeigt einen Mann mit einer Tätowierung, auf der steht ‚Nur wenn ich träume bin ich frei’. Vielleicht war es für ihn die einzige Möglichkeit, seinen Traum im Frühling auszudrücken. Wir werden es wohl nie erfahren.“

„Wow, so etwas habe ich noch nie gelesen“, dachte sich Sieglinde Geisel, als sie vor einem Jahr auf einem belarussischen Exilliteratur-Festival das erste Mal in „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič geblättert hatte. Nun hielt die Kritikerin die Laudatio auf Bacharevičs Opus Magnum, in deren Verlauf auch der kongeniale, kürzlich mit dem Celan-Preis geehrte Übersetzer Thomas Weiler donnernden Szenenapplaus erhielt. Geisel warf in ihrer klug abwägenden Laudatio auch ein Schlaglicht auf unseren Betrieb: „Literatur ist immer gefährdet, umso mehr, wenn sie vom Rand Europas stammt. ‚Europas Hunde’ ist im kleinen, unerschrockenen Verlag Voland & Quist erschienen, es ist bereits das vierte Buch in deutscher Übersetzung, und keins der anderen wurde in einem führenden Medium rezensiert.“ Zwar habe Thomas Weiler für seine Übersetzung den Paul-Celan-Preis erhalten, doch der Roman selbst tauchte letztes Jahr auf keiner Long- oder Shortlist auf. „Dass die Jury nun ‚Europas Hunde’ mit diesem Preis ins Licht hebt, ist ein kleines Wunder. Und ein großes Glück.“

Bacharevičs Dankrede, von standing ovations begleitet, war vielleicht die eindrücklichste, seit an dieser Stelle, es war 2006, Juri Andruchowytsch gesprochen hat; unvergessen dessen Bitte an die europäischen Funktionsträger: „keine Botschaften zu senden, die die Hoffnung töten.“
Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit.
Alhierd Bacharevič
Wahre Literatur, so Bacharevičs im März 2025, spricht nicht über Lukaschenka oder Putin. Wahre Literatur spricht über Sprache ‒ und über Zeit: „Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie die Zukunft. Zukunft ist absolute Freiheit. Zukunft bedeutet unweigerlich den Tod des Despoten. Wahre Literatur versucht die Realität in drei Dimensionen zugleich zu sehen. Sie spricht gleichzeitig mit denjenigen, die waren, mit denjenigen, die da sind, und mit denjenigen, die noch kommen. Mit Menschen der Vergangenheit, Menschen der Gegenwart, Menschen der Zukunft. Deshalb muss der Schriftsteller historisch denken können. Er muss die ersten Warnsignale erkennen, die Gefahr sehen, lange bevor die Katastrophe eintritt.“ „Europas Hunde“ ist der Versuch, solche Signale zu erkennen und in den kommenden Tag hineinzuschauen.

Und noch einmal richtete sich an diesem Abend der Scheinwerfer auf den Betrieb, auf unseren Umgang mit Kultur, die oft nur noch in homöopathischen Dosen ausgereicht wird. Bacharevič sieht die große europäische Romankunst bedroht: „Komplexität und Polyphonie, Tiefe und Experiment, Sprache und Geheimnis, die innere Zeit des Romans und seine psychologische Kraft ‒ der moderne Mensch hat immer weniger Lust darauf. Er verlernt langsam zu lesen. Er verliert die Kunst des Romans als eine Kunst der Erkenntnis, er verliert die Kunst des Lesens.“

Am Ende dieses erstaunlichen Abends hören wir, großartig interpretiert vom Gewandhausorchester unter Omer Meir Wellber, „Morgenstimmung“, komponiert von Edvard Grieg für Henrik Ibsens berühmtes Stück „Peer Gynt“. Grieg, der hier in Leipzig studierte, hat die Magie der Morgendämmerung eingefangen, wie uns Lubna Jaffery vom Ministerium für Poesie nahebringt. „Wenn man genau hinhört, kann man fast die Vögel bei Tagesanbruch singen hören“, sagt sie, „ein untrügliches Zeichen für Frühling und Hoffnung“. Buchmessedirektorin Astrid Böhmisch hat das letzte Wort. Das „wilde, schöne Durcheinander der Literatur“ – es kann beginnen.