Es braucht nicht immer Faust und Gretchen, um Strukturen hinter der Erzählung aufzudecken, auch mit Computerspielen sind Erzählstrukturen idel zu lernen.
Der Journalist Gundolf S. Freyermuth hat Games als das nach Büchern und dem Film „drittgrößte Erzählmedium der Neuzeit“ bezeichnet, andere sehen in Computerspielen schlicht die „Romane des 21. Jahrhunderts“. Wenn aber von Games im Schulzusammenhang die Rede ist, werden Gewalt und die Minderwertigkeit des Mediums thematisiert, schnell ruft man nach der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Woher dieses schlechte Image?
Immer, wenn Medien neu auftauchen, ist die Zahl der Menschen, die darüber Bescheid wissen, begrenzt. Das, was unbekannt ist, macht zunächst erst einmal Angst. Was man heute über Computerspiele liest, hat man vor 80 Jahren über Comics gelesen und vor 100 Jahren vielleicht über den Film. Schon Platon soll ja gegen die Schrift gewettert haben … Niemand würde sagen: Ich hab‘ Goethes „Werther“ zwar nicht gelesen – aber ich könnte mir vorstellen, dass der den Selbstmord glorifiziert. Bei Computerspielen trauen sich solche Stellungnahmen doch deutlich mehr Leute. Natürlich sehen einige Computerspiele auf den ersten Blick sehr martialisch aus. Das sagt aber noch nichts über die Empfindungen der Spieler während des Spiels aus. Die Spieler von Ego-Shootern sehen ihr Spiel als virtuelles Räuber- und Gendarm-Spiel, bei dem es nicht um konkretes Leid, Tod und Sterben, sondern eher um Taktik geht.
Vielleicht liegt es auch daran, dass sich niemand so gern auf ein Spielfeld begibt, wo das jahrzehntelang eingeübte Wissen nichts gilt. Noch immer ist Lesen als kulturelles Interface absolut prägend.
Lesen ist der Schlüssel in die Mediengesellschaft, ganz klar. Interessanterweise hilft aber das alte Wissen auch bei Computerspielen. Diese Erkenntnis überrascht viele. Bei einem Großteil der Spiele werden ja Geschichten erzählt. Das genau ist mein Forschungsfeld: Ich möchte wissen, wie man literarische Kompetenzen mit Computerspielen fördern kann. Mittlerweile hat sich in der Forschung herausgestellt, dass Computerspiele die gleichen Potenziale besitzen wie Literatur, um literarische Kompetenzen anzuregen.
Sie haben eine umfangreiche empirische Studie zum literarischen Lernen mit Computerspielen durchgeführt. Zu welchen Ergebnissen sind sie dort gelangt?
Ich komme aus der Lesesozialisationsforschung. Ausgehend von den Pisa-Ergebnissen, die gezeigt haben, dass Jungen deutlich schlechter lesen als Mädchen, hat mich interessiert, wie man Jungen fördern könnte. Meine vielleicht naive Annahme war, dass das mit einem Medium funktionieren könnte, das Jungen sehr vertraut ist. Für die Studie habe ich das Strategiespiel „Warcraft III“ ausgewählt – nicht zu verwechseln mit dem Online-Spiel „World of Warcraft“. Dazu habe ich ein Buch gefunden, das hinsichtlich des Aufbaus sehr ähnlich war: „Kariuki und sein weißer Freund“ des Kenianers Meja Mwangi. Ich habe Schülerinnen und Schüler zu Handlung, bestimmten Metaphern und Figurencharakteristiken des Buchs befragt. Anschließend habe ich sie das Computerspiel spielen lassen und die Befragung noch einmal durchgeführt. Das verblüffende Resultat: Unabhängig vom Geschlecht und von den Vorerfahrungen mit Spielen erzielten die Probanden nahezu identische Werte bei beiden Medien. Die Kompetenzpotenziale beider Medien unterschieden sich nicht. Allerdings müssen beide Medien auf ähnlichem narrativem Level stehen – es macht wenig Sinn, Tetris mit Goethe zu vergleichen. Umgekehrt ist etwa „The new Beginning“, ein Adventure-Spiel über die Klimakatastrophe, weit komplexer als jeder Heftroman.
Literarische Kompetenz lässt sich nicht nur mit Faust und Gretchen, sondern auch mit Lara Croft fördern?
Der Computerspielforscher in mir würde jetzt sagen: Es gibt zirka 15 verschiedene Lara-Croft- Versionen, von denen sich vielleicht drei für den Unterricht eignen. Aber grundsätzlich haben Sie recht: Wobei ich um Gottes willen nicht fordere, dass man Literatur aus dem Deutschunterricht verbannt! Allerdings sollten Games den Anteil am Unterricht bekommen, den sie gesellschaftlich längst haben. Ein Unterricht, der aufs Leben vorbereitet, darf sich solchen Medienformen nicht verschließen.
Birgt der pädagogische Einsatz von Spielen eventuell die Gefahr, dass man sie nicht als eigenständiges Medium ernst nimmt? Man kann Spiele analysieren – letztlich muss man sie spielen.
Diese Gefahr sehe ich nicht. In dem Moment, wo man sich seriös mit dem Thema beschäftigt, klappt es nicht mehr, das als „pädagogische Krücke“ zu benutzen. Wenn Lehrerinnen und Lehrer die hohen Standards, die sie bei der Literaturvermittlung haben, auf Computerspiele übertragen, mache ich mir da wenig Sorgen.
Wie sieht denn die Realität in Schulen, Lehrplänen und der Lehrer-Weiterbildung aus? Wo stehen wir heute?
Noch ziemlich am Anfang. Lehrer sind heute sehr stark eingebunden; ich kenne keinen, der weniger als 40 Stunden in der Woche arbeitet. Das ist ein Umfeld, in dem Innovation nicht ganz so schnell wachsen kann. Ich erlebe sehr viele interessierte Lehrer, die sich auf das neue Medium einlassen und gute Erfahrungen damit machen. Allerdings ist das sehr arbeitsintensiv, zumal es bislang sehr wenig Handreichungen gibt. Der Forschungsstand gibt es her, dass man das, auch gut begründet, machen könnte. Was fehlt, sind die Materialien: Für den „Faust“ gibt es dutzende Lehrer-Handreichungen – zu Computerspielen fast nichts. Das ist noch eine der Baustellen, an denen gearbeitet werden muss – da müssen auch die Schulbuchverlage ran. Es gibt erste Bewegungen: Klett beispielsweise hat in seine neue Deutschbuch-Reihe eine Einheit zu Computerspielen als Geschichten erzählende Medien aufgenommen – ein erster Schritt.
Es gibt offensichtlich noch viel zu tun – was würden Sie sich wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass die Kolleginnen und Kollegen, die das Thema interessant finden, den Mut haben, es einfach auszuprobieren. Es muss ja nicht gleich eine ganze Unterrichtseinheit sein! Es ist schön, dass jetzt eine Lehrergeneration nachwächst, die häufig eigene Gaming-Erfahrungen hat. Allerdings kenne ich auch genug Kollegen, die es mit Mitte 50 noch mal wissen wollen. Die fuchsen sich rein – und werden von ihren Schülern ernst genommen. Idealerweise kann das zu einem lustvollen, gemeinsamen Lernprozess führen: In Sachen Erzähltext-Analyse wird man einem gestandenen Deutschlehrer nichts vormachen können. Wie man Spiele steuert, wissen die Schüler im Zweifelsfall besser.
Spielen Sie selbst?
Natürlich. Leider viel weniger lustvoll als in meiner Jugend. Inzwischen ist das eher Arbeit: Ich spiele in der Regel mit griffbereitem Zettel, Stift oder Notebook.
Bei welchem Computerspiel haben Sie zuletzt Zettel, Stift und Forschungsauftrag einfach vergessen?
Das war „The Witcher III“ – eine Computerspiel- Reihe, die auf einer Buchserie des polnischen Fantasy-Autors Andrzej Sapkowski über den Hexer und Monsterjäger Geralt von Riva beruht. Ein extrem tolles Spiel mit einer fesselnden Geschichte. Für den Unterricht ist es leider ungeeignet: Die Spielzeit beträgt knapp 150 Stunden.
Dr. Jan M. Boelmann ist Juniorprofessor an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, an der er mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur- und Mediendidaktik forscht und lehrt. Nach seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Gerhard Rupp an der Ruhr-Universität Bochum erwarb er das zweite Staatsexamen als Referendar an der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen und am Seminarstandort Münster. Zuletzt sind von ihm das Buch „Literarisches Verstehen mit narrativen Computerspielen“ (KoPaed 2015) sowie der gemeinsam mit Andreas Seidler herausgegebene Band „Computerspiele im Deutschunterricht“ (Peter Lang 2013) erschienen.